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10. Berlin-Dahlem, 5. November 1990
ОглавлениеSandrine Martins Vortrag fand um siebzehn Uhr statt. Wegen der geringen Beteiligung hatte man ihn kurzfristig in einen kleineren Seminarraum verlegt. Dass nur so wenige kamen, hatte sicherlich mit dem späten Termin zu tun, den Malus festgesetzt hatte. Vielleicht hatte er das sogar so beabsichtigt. Das Thema Pilzgifte in Lebensmitteln war nicht unverfänglich. Malus hatte schon vorher Leo gegenüber seine Bedenken dazu geäußert, die Interessen der Lebensmittelindustrie dürften nicht beschädigt werden.
Sandrine war nervös, als sie an das Rednerpult in dem kleinen Seminarraum trat. Leo saß am Projektor, um auf ihr Zeichen hin die entsprechenden Dias auf die Leinwand hinter Sandrine zu projizieren. Unter den fünfzehn Zuhörern waren aus der Fachgruppe neben Bernadette nur Bernhard Malus, Anke Barkowski-Gertenbauer und Ferdinand Prause anwesend.
Trotz ihrer Nervosität wirkte Sandrine sehr ruhig, als sie zu sprechen begann. Fast routiniert, als hätte sie bereits schon viele Vorträge gehalten, führte sie die Zuhörer in das Thema ein. Ihre aktuelle Doktorarbeit über Laktat nahm sie als Einstieg, um auf ihre Arbeiten zur Belastung von Apfelsaft, Cidre und Calvados mit Patulin zu kommen. Sie ergänzte diese Ausführungen mit Zahlen über die Häufigkeit von Speiseröhrenkrebs in der Normandie. Nachdem sie zum Ende gekommen war, bedankte sich Malus im Namen der Anwesenden und nutzte diese Gelegenheit sofort, um Sandrines Schlussfolgerungen kleinzureden.
„Ihre Arbeiten zum Laktat sehen ganz ordentlich aus, aber was den zweiten Teil ihres Vortrags betrifft ...“
Malus hatte sich betont langsam von seinem Stuhl erhoben. Er ließ sich Zeit, um seine Kritik zu formulieren. „Eigentlich fehlt Ihnen aber doch der Beweis, dass Ihre Proben tatsächlich Patulin enthalten.“
Leo drehte sich zu ihm um und bemerkte wie Prause, der neben Malus saß, höhnisch grinste.
„In Deutschland ist dieses Problem bei Apfelmost und Apfelschnaps nicht bekannt. Wieso sollte das bei Ihnen in Frankreich anders sein? Schließlich haben wir in der EU strenge Richtlinien und vorgegebene Grenzwerte.“
Malus setzte sich wieder und Ferdinand Prause grunzte zustimmend.
„Die vorläufigen Tests haben Hinweise auf erhöhten Gehalt an Patulin in einigen Proben gegeben“, erwiderte Sandrine.
„Und warum haben Sie, die, wie Sie sagen, vorläufigen Tests nicht bestätigt?“
Malus war wieder aufgestanden. Er betrachtete sie mit dem Ausdruck einer lauernden Katze, die jeden Moment zum Sprung ansetzen wollte.
„Es gab technische Schwierigkeiten mit dem LC-MS/MS Gerät!“
Malus konnte seinen Triumph nun nicht mehr verbergen.
„Schwierigkeiten sagen Sie! Und diese Schwierigkeiten waren so groß, dass Sie das Thema Ihrer Promotion auf Laktatgehalt in Rohwürsten wechseln mussten?“
Sandrines Blick fiel zuerst auf Malus, dann auf Leo. Sie trat einen Schritt vom Pult zurück und gab keine Antwort. Keiner der Anwesenden sagte etwas in diesem Moment.
Anke Barkowski war das Schweigen peinlich, das sich wie eine Lähmung unter den Versammelten ausbreitete. Sie verabscheute das Machogehabe ihrer männlichen Kollegen, zeigte das aber nicht offen. Aber Schneider tat auch nichts, um seinen Gast zu unterstützen. Etwas war ihr eingefallen, um die Situation zu entschärfen: „Am LEAG haben wir solche Untersuchungen an Obstbränden bisher aber auch noch nicht durchgeführt, oder?“
„Wohl deswegen, weil es dazu überhaupt keinen Anlass gibt“, gab Ferdinand Prause zur Antwort.
Mit dem Gespür eines Opportunisten nutzte er die Gegebenheit, um sich in den Vordergrund und in die Gunst seines Vorgesetzten Bernhard Malus zu spielen.
Malus nickte bestätigend. „Das sehe ich allerdings genauso.“
Die Anwesenden, die das Wortgeplänkel mehr oder weniger interessiert verfolgt hatten, verharrten im Schweigen.
Nach einem kurzen Moment erhob sich Malus erneut von seinem Stuhl und ließ die Augen über die kleine Runde wandern: „Gibt es noch weitere Fragen?“
Niemand meldete sich.
„Dann war es das wohl! Vielen Dank!“
Nach dieser Feststellung knüpfte er sein Sakko zu und ging zur Tür. Ferdinand Prause beeilte sich, hinter ihm aufzuschließen und redete auf ihn ein. Leo verstand in dem allgemeinen Gemurmel und Scharren der Stühle nicht, was er zu Malus sagte.
Leo hatte eine Menge Fragen an Sandrine, wollte diese aber nicht vor den Anwesenden stellen. Er verfluchte Malus für die herablassende Art, mit der er Sandrine behandelt hatte. Außerdem schämte er sich, weil er Sandrine nicht in Schutz genommen hatte. Aber was hätte er als Argument gegen diese Sticheleien vorbringen können?
Ihm fiel ein, wie perplex er gewesen war, als Malus ihn und die anderen überrumpelt hatte, sein Gefälligkeitsgutachten zu unterschreiben. War das alles nicht bereits ein Hinweis darauf, dass auch er dabei war, der moralischen Korruption in diesem Institut zum Opfer zu fallen?
Sandrine war schweigsam und bedrückt, als sie am späten Nachmittag mit Leo in dessen Wohnung fuhr. Er versuchte, sie in bessere Stimmung zu versetzen.
„Machen Sie sich nichts daraus, Sandrine! Malus gehört zu den Leuten, die jede Interessenkollision mit der Industrie tunlichst vermeiden wollen. Deshalb wollte er auch Ihre Befunde zu Patulin herunterspielen.“
„Aber er hat den kritischen Punkt erkannt. Der endgültige Beweis ist nicht erbracht, solange die LC-MS/MS Untersuchungen an den Proben nicht durchgeführt worden sind.“
„Ist das wirklich so? Das ist ja schade, dann waren alle Ihre Vorarbeiten und das Probensammeln tatsächlich umsonst!“ Leo war seine Enttäuschung deutlich anzumerken.
Umso überraschter war er, als Sandrine daraufhin heftig ihren Kopf schüttelte. “Umsonst? Umsonst war gar nichts, Leo. Ich habe die Proben ja noch.“
Ihm verschlug es für einen Moment die Sprache. Christine hatte ihm erzählt, Sandrine hätte alle Arbeiten mit dem Patulin aufgegeben, aber warum hatte sie dann die Proben aufgehoben? Er musste unbedingt mehr darüber erfahren.
In der Zwischenzeit waren sie in der Rönnestraße angekommen. Sandrine sah sich neugierig um. Sie fragte, aus welcher Zeit die Häuser hier stammten. Sie stiegen die Treppen hoch bis zu seiner Wohnung im vierten Stock. Als sie oben angekommen waren und Leo die Wohnungstür aufschloss, war Sandrine erstaunt, wie hoch und wie groß die Räume waren.
„Altbau! Heutzutage ist das eher ein Luxus“, sagte Leo.
Sandrine nickte. Sie war beeindruckt und sah sich in der Wohnung um. Vom Flur gelangte man durch eine Tür in einen großen Raum, der mit altem Eichenparkett ausgelegt war. Von der Fensterseite konnte man weit über die Stadt blicken, eine weitere Tür wies zu einem Balkon.
„In Paris sind die Wohnungen oft viel kleiner. So eine Wohnung wäre dort für die meisten Leute kaum bezahlbar.“
Leo zuckte mit den Achseln. „Zum Glück ist die Miete hier nicht so hoch.“
Er deutete auf den großen Raum. „Das ist das Wohnzimmer. Bei Ihnen in Frankreich sagt man le salon, nicht wahr?“ Das wusste er von Christine. Dann zeigte er Sandrine das Gästezimmer, in dem ein Schrank, ein Tisch mit zwei Stühlen und eine aufklappbare Couch standen. Er drückte ihr ein Schlüsselbund in die Hand.
„Dieser Schlüssel ist für Ihr Zimmer und die anderen sind für die Wohnung und die Haustür. Bettwäsche ist dort im Schrank.“
Nachdem Sandrine sich eingerichtet hatte, setzten sie sich beide auf den Balkon und sahen dabei zu, wie die Züge der S-Bahn auf der gegenüberliegenden Trasse in regelmäßigen Abständen vorbeifuhren. Sandrine zündete sich eine Zigarette an, lehnte sich auf dem Klappstuhl zurück und atmete tief durch. Es war ihr anzumerken, wie die Anspannung, die der Tag mitgebracht hatte, von ihr abfiel.
„Apropos, mit Calvados kann ich nicht dienen“, sagte Leo schmunzelnd, „aber wenn Sie vielleicht Lust auf ein Bier hätten?“
„Gerne, gegen ein Bier habe ich gar nichts. Als Lebensmittelchemikerin kenne ich auch das deutsche Reinheitsgebot.“
„Womit wir wieder beim Thema Lebensmittelsicherheit wären.“ Leo lachte, ging in die Küche und kam mit zwei Flaschen Bier zurück.
Sandrine ging nicht auf seine Anspielung ein. „Schön haben Sie es hier. Wohnen Sie nicht mit Ihrer Freundin Christine zusammen?“
„Christine ist oft hier oder ich bei ihr, aber wir haben nie den Schritt gemacht, eine gemeinsame Wohnung zu beziehen.“
Leo wollte nicht über seine Beziehung mit Christine zu sprechen. Manches hätten sie beide vielleicht anders machen können, aber jetzt war es dazu vielleicht zu spät. Er wusste es selbst nicht und war froh, dass Christine in diesem Moment nicht hier mit ihnen saß.
„Christine ist oft im französischen Sprachraum unterwegs. Zurzeit ist sie gerade in Belgien.“
„In Belgien? Franzosen und Belgier, das sind zwei Paar Schuhe!“ Sandrine schüttelte lächelnd ihren Kopf.
„Wir Franzosen machen oft Witze über die Belgier, so als wären wir etwas Besseres. Aber wenn Belgien nicht wäre, hätten viele junge Franzosen Probleme, einen Studienplatz zu finden. Bei uns ist alles überbelegt und viele gehen zum Studieren nach Belgien, wo es noch keine Studienplatzbeschränkungen gibt. Außerdem sprechen die meisten Belgier mindestens zwei oder sogar drei Sprachen. Davon können sich viele bei uns eine Scheibe abschneiden.“
„Ihr Englisch ist jedenfalls sehr gut, Sandrine.“
„Die Normandie hat gemeinsame Wurzeln mit England und meine Eltern haben mich vor dem Abitur für ein Jahr als Austauschschülerin nach Brighton geschickt. Das hat mir geholfen, mein Englisch zu verbessern.“
Nachdem sie mit ihren Bierflaschen angestoßen hatten, kam Leo auf Sandrines Bemerkung im Auto zu sprechen.
„Jetzt bin ich aber doch sehr neugierig geworden. Sie sagten vorhin im Auto, Sie hätten Ihre Proben noch!“
Sandrine nickte. „Eingefroren, an einem sicheren Ort. Ich hatte auch versprochen, Ihnen zu erklären, warum ich die Messungen am LC-MS/MS Gerät bei uns nicht durchgeführt habe. Vielleicht können Sie sich das ja inzwischen auch schon denken? Ich weiß nicht, was Ihnen Ihre Freundin Christine von unserer Begegnung alles berichtet hat?“
„Christine meinte, Sie wären sehr verbittert gewesen, weil Sie Ihre Arbeiten über das Patulin abbrechen mussten.“
„Verbittert? So kann man es auch nennen! Es gab politischen Druck und die Fakultät wollte daraufhin das Projekt nicht mehr weiterführen. Damit stand auch das LC-MS/MS Gerät für mich nicht mehr zur Verfügung. Der Dekan hatte mich vor die Wahl gestellt entweder zu gehen, oder mein Promotionsthema zu wechseln. Er wollte die Sache mit dem Patulin für immer vom Tisch haben und ich sollte alle Aufzeichnungen und Proben dazu vernichten. Aber ich habe sowohl die Protokolle als auch die Proben aus dem Projekt an einem sicheren Ort aufgehoben.“
Leo war beeindruckt. Sandrine war keine Duckmäuserin und hatte dem Dekan nur soweit nachgegeben, wie es unbedingt nötig war. Und was war mit ihm? Er hatte dem Gefälligkeitsgutachten des Bernhard Malus mit seiner Unterschrift einen Anstrich von wissenschaftlicher Abstimmung gegeben. Vielleicht konnte er das jetzt wiedergutmachen?
Leo dachte über eine Möglichkeit nach, wie er Sandrine unterstützen könnte. „Also, wie ich verstanden habe, fehlen Ihnen nur noch die LC-MS/MS Messungen, um ihre Studie abschließen zu können?“
„Richtig. Damit kann man genau bestimmen, wie hoch jede Probe mit Patulin belastet ist. Mit der Messung aller Proben wäre die Studie abgeschlossen.“
Ihm war etwas eingefallen, womit er ihr helfen konnte und sogar noch mehr. Er sah sie ernst an. „Sandrine, was halten Sie davon, wenn Sie nach Ihrem Abschluss in Paris für ein paar Monate an unser Institut als Gastwissenschaftlerin kämen? Sie könnten hier die LC-MS/MS Untersuchungen durchführen, die Ihnen noch fehlen. Sie sprachen doch über die auffällig häufigen Fälle von Speiseröhrenkrebs in der Normandie. Das hat mich auf eine zusätzliche Idee gebracht. Wir könnten das Patulin und Ihre Proben auf krebserzeugende Eigenschaften testen.“
Sandrine sah ihn überrascht an.
„Ich meine, nur wenn Sie nicht schon woanders ein Stellenangebot haben?“
Nun hatte sie wirklich verstanden. Das war es doch, was sie sich erhofft hatte! Sie sah Leo Schneider mit großen Augen an, als zweifelte sie immer noch daran, dass er es wirklich ernst meinte. „Ein Stellenangebot habe ich bis jetzt noch nicht. Das wird in nächster Zeit auch mein dringendstes Problem werden. Meinen Sie denn, dass Ihr Vorschlag überhaupt eine Chance hat, verwirklicht zu werden?“
„Ich weiß schon, worauf Sie anspielen, Sandrine. Der Herr Malus, nicht wahr? Der hat versucht, Ihre Ergebnisse schlechtzureden, weil er alles vermeiden will, was ihm in seiner Position schaden könnte. Menschen mit Eigenverantwortung mag er überhaupt nicht. Aber weil Herr Malus sich nur für sich und seine eigene Karriere interessiert, kümmert er sich nicht um Einzelheiten, was die Laborarbeit in seiner Fachgruppe betrifft. Es wird nicht so schwer sein, Sie für ein paar Monate Aufenthalt als Gastwissenschaftlerin am LEAG unterzubringen, wenn Herr Malus glaubt, dass er davon einen Vorteil hat. Und das können wir ihm doch anbieten. Sie geben uns in analytischer Lebensmittelchemie Nachhilfe, was das Labor und damit Malus‘ Fachgruppe nur aufwertet. Das Thema unserer Zusammenarbeit formulieren wir neutral. Einen Zugang zu einem der am LEAG vorhandenen LC-MS/MS Geräte werden wir bestimmt bekommen.“
„Leute wie Ihren Monsieur Malus kenne ich auch von der Universität in Paris. Darin unterscheiden sich unsere beiden Länder überhaupt nicht“, fügte Sandrine hinzu.
„Dann trinken wir jetzt auf unser gemeinsames Vorhaben!“ Leo prostete ihr zu. Sie stießen auf ihre Abmachung an und blieben noch so lange auf dem Balkon, bis es zu kühl wurde, um noch draußen zu sitzen. Sandrine zog sich gleich danach in ihr Zimmer zurück und Leo hörte, wie sie von innen zweimal abschloss.
Am Dienstagvormittag war Sandrine noch mit ins Labor gekommen. Den Nachmittag wollte sie sich frei halten, um sich in Berlin ein wenig umzuschauen. Gleich, nachdem sie angekommen waren, hatte sich Leo danach erkundigt, wo die für Sandrines Untersuchungen benötigten LC-MS/MS Geräte standen. Insgesamt gab es am LEAG drei Geräte, zwei standen in der Toxikologie und eines in der Arzneimittelforschung. Mit diesen Gegebenheiten sollte es nicht schwer sein, einen Platz für die Messungen an Sandrines Proben zu bekommen.
Blieb nur noch die Frage, wie sie Sandrines Proben in Leos Labor schaffen konnten. Niemand sollte davon erfahren, denn offiziell existierten diese Proben ja nicht mehr. Leo wollte Bernadette erst in die ganze Sache einweihen, wenn es sicher war, dass Sandrine als Gastwissenschaftlerin bei ihm arbeiten konnte.
Sandrine hatte sich schon vor der Mittagspause von Leo und Bernadette verabschiedet. Leo hatte ihr zwei Adressen von Restaurants in der Innenstadt gegeben, nachdem er von ihr gehört hatte, dass sie die asiatische Küche gerne mochte. Dann konnte sie ihren Stadtbummel gleich mit dem Besuch eines vietnamesischen Restaurants am Savignyplatz, das Leo durch gemeinsame Besuche mit Christine kannte, verbinden. In der Kantine des LEAG standen heute Kohlrouladen und als zweite Wahlmöglichkeit panierter Seelachs mit Kartoffelpüree auf der Speisekarte, vermutlich wäre Sandrine damit wieder auf die Salatbar zurückgeworfen gewesen.
Am Nachmittag setzte sich Leo an seinen Schreibtisch und begann einen Antrag zu skizzieren, um Sandrine Martin als Gastwissenschaftlerin einzuladen. Durch die Verbindung mit ihr hatte er endlich etwas gefunden, das seiner Arbeit am LEAG einen Sinn gab. Genau das war doch seine Vorstellung gewesen, als er vor zwei Monaten die Stelle am LEAG angenommen hatte! Bis zum Abschluss von Sandrines Doktorarbeit blieben noch sechs Monate. Zeit genug, um dem Herrn Malus einen überzeugenden Antrag abzuliefern.
In der Hauptsache ging es Malus doch nur darum, sich vor dem Institutspräsidenten Volker Hampel ins rechte Licht zu setzen. Mit Sandrine als Gastwissenschaftlerin ergab sich eine neue Forschungsrichtung, die Verbindung zwischen klassischer Lebensmittelanalytik mit dem neuen Labor für Mutationstestung. So etwas konnte Malus doch vor Hampel als erfolgreiche Innovationsleistung präsentieren. Leo lächelte zufrieden, als er die ersten Zeilen des Forschungsantrages zu Papier brachte.
Am nächsten Morgen war Sandrine schon gegangen, noch bevor Leo aufgestanden war. Sie musste sich bemüht haben, ihn nicht zu wecken, denn er hatte nicht einmal die Wohnungstür zuklappen hören. Gestern hatte er seiner französischen Kollegin noch vorgeschlagen, sie am nächsten Morgen zum Flughafen Schönefeld zu bringen. Sandrine hatte das abgelehnt und gemeint, sie wolle ihm das frühe Aufstehen und die lange Fahrt nicht noch einmal zumuten. Die Schlüssel lagen im Wohnzimmer auf dem Tisch, daneben ein kleiner Zettel mit den Worten. „Thank you for everything Leo! Best wishes, Sandrine.“
Als Leo am Morgen auf dem Weg zur Arbeit die Treppe hinunterging, traf er im Treppenhaus auf seine Nachbarin, Frau Schadow. Sie konnte sich nicht verkneifen zu fragen, wo denn eigentlich seine Bekannte, die Frau Bergmann wäre?
„Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Schadow, es ist alles im grünen Bereich.“ Warum alle ihn ständig auf Christine ansprachen? Er wollte nicht unhöflich sein und drückte sich schnell an ihr vorbei. Frau Schadow hatte Sandrines Besuch wohl mitbekommen und dachte sich ihren Teil.
Leo lief die Treppen schnell hinunter. Im Hausbriefkasten lag eine Ansichtskarte von Christine. Ihre Ankündigung, als sie das letzte Mal miteinander telefoniert hatten, war kein Scherz gewesen. Mächtige Kühltürme, grell erleuchtet in der Dunkelheit: das Atomkraftwerk bei der Stadt Huy in Belgien. Centrale de Tihange stand vorne auf der Karte in leuchtend gelben Buchstaben gedruckt.
Leo las Christines Zeilen auf der Rückseite und musste über ihren Kommentar „Gutschein für unseren nächsten gemeinsamen Urlaub: Romantische Atmosphäre unter Kühltürmen“ lachen. Dann wurde er plötzlich nachdenklich. Was meinte Christine denn genau damit? War es eine Anspielung darauf, dass ihre Beziehung abgekühlt war? Während er ins Institut fuhr, grübelte er eine Weile darüber, ob es einen tieferen Sinn in Christines Nachricht gab. Nachdem er beinahe eine rote Ampel übersehen hatte, schlug er sich den Gedanken aus dem Kopf. Das war ein Scherz von Christine gewesen, weiter nichts.
Trotzdem ließ ihn den ganzen Tag das Gefühl nicht los, dass ihre Beziehung sich geändert hatte, ohne dass er genau sagen konnte, warum. Ihn hatte schon so ein komisches Gefühl beschlichen, als Sandrine ihn gestern daraufhin angesprochen hatte. Er nahm sich vor, mit Christine nach ihrer Rückkehr über das zu reden, was zwischen ihnen unausgesprochen geblieben war.