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17. Berlin-Dahlem, 25. Juni 1991
ОглавлениеNachdem sie den Telefonhörer abgenommen hatte und die Stimme des Dekans von der Pariser Universität vernahm, war Anke Barkowski zuerst überrascht und fühlte sich dann geschmeichelt. Ihr Anruf bei ihm lag schon ein halbes Jahr zurück. Damals hatte sie den Eindruck gewonnen, als hätte der Professor sich nur aus Höflichkeit mit ihr unterhalten und sie danach gleich wieder vergessen.
Aber so konnte man sich täuschen. In diesem Augenblick sah sich Anke Barkowski-Gertenbauer schon als Mitglied einer Delegation des LEAG auf der Reise nach Paris. Warum hätte sich Professor Fromentin sonst wieder bei ihr gemeldet? Das LEAG würde nicht umhinkommen, sie dafür zu benennen, ihr Englisch und ihre fachliche Kompetenz übertrafen die eines Ferdinand Prause bei weitem. Von Malus wusste sie, dass ihn Dienstreisen, die wissenschaftlichen Charakter hatten, nicht interessierten.
Doch je länger Eugène Fromentin redete, desto mehr wechselte ihre anfängliche Begeisterung in Bestürzung. Das angebotene LC-MS/MS Gerät hatte ihn nie interessiert. Stattdessen fragte er, ob Sandrine Martin in ihrer Fachgruppe am LEAG arbeitete.
„Aber das müssten Sie doch am besten wissen, Eugène?“, antwortete die durch seinen Ton verunsicherte Anke Barkowski.
Die Stimme des Dekans sank daraufhin noch um ein paar Minusgrade. Plötzlich war die Rede von patentierten Substanzen aus der Fakultät, die Sandrine Martin widerrechtlich an sich genommen hatte. Außerdem gäbe es Beweise dafür, dass diese Substanzen ohne sein Wissen und Zustimmung im Auftrag des LEAG nach Berlin verschickt worden waren. Ob Madame Anke das bisher noch nicht bewusst gewesen sei?
Anke Barkowski widersprach, indem sie versicherte, nichts von derlei Dingen zu wissen. Aber der Dekan wies sie schroff zurück. „Sie müssen von dieser Sache Kenntnis gehabt haben, sonst hätten Sie mich doch damals nicht wegen des LC-MS/MS Geräts angerufen, Madame! Damit hat sich das LEAG der Beihilfe zu einer Straftat schuldig gemacht und das kann juristische Konsequenzen haben. Diese Proben müssen der Fakultät umgehend zurückgegeben werden. Ich bestehe darauf! Sie haben kein Recht, damit an Ihrem Institut zu arbeiten!“
Anke Barkowski zuckte zurück, als wäre sie von einer Schlange gebissen worden. Ins Fadenkreuz juristischer Verfolgungen zu geraten, war so ziemlich das Schlimmste, was einem am LEAG widerfahren konnte. Bei jeder Gelegenheit hatte Bernhard Malus seinen Mitarbeitern eingetrichtert, alles zu unterlassen, was juristische Konsequenzen nach sich ziehen könnte. Deshalb durften seine Untergebenen nichts aus eigener Initiative unternehmen, außer wenn es vorher abgesprochen und von ihm gebilligt worden war. Dagegen hatte sie verstoßen, als sie Fromentin leichtfertig das Angebot mit dem LC-MS/MS Gerät gemacht hatte. Jetzt schlug das auf sie zurück. Wenn Malus von ihrem Anruf bei Fromentin und von der Sache mit den Patenten erfuhr, würde er sie dafür allein verantwortlich machen.
Sie zwang sich zur Ruhe, während Fromentin weiter auf sie einredete. Wenn man es genau nahm, was hatte sie denn eigentlich mit Sandrine Martin zu tun? Nichts! Frau Martin arbeitete doch bei Leo Schneider. Von Schneider allerdings hatte der Dekan nichts wissen wollen, als sie dessen Namen in Zusammenhang mit Sandrine Martin erwähnte.
„Versuchen Sie nicht von Ihrer Verantwortung abzulenken“, drohte Fromentin. „Sie waren es doch gewesen, Madame Anke, die mich angerufen und über Proben, die bei Ihnen gemessen werden sollen, geredet hat! Das war nur ein Vorwand gewesen! Inzwischen haben Sie sich die Proben über Sandrine Martin beschafft! Das ist doch der Beweis, dass Sie von der Sache wussten!“
In diesem Moment bedauerte Anke Barkowski-Gertenbauer zutiefst, jemals mit Eugène Fromentin gesprochen zu haben. Malus würde ihr diese Eigenmächtigkeit nicht verzeihen und ihr bei einer Klage aus Paris die alleinige Verantwortung aufbürden. Ferdinand Prause konnte sich ins Fäustchen lachen: Anke, die Streberin! Das hatte sie nun von ihrem wichtigtuerischen Gehabe. Während er beim Frühstück seine Witzchen machte und ansonsten nur zielstrebig auf seine Verbeamtung hinarbeitete, hatte die ehrgeizige Kollegin sich zu weit aus dem Fenster gelehnt und war, plumps, hinausgefallen!
Diese Gedanken schwirrten Anke Barkowski durch den Kopf wie lästige Mücken, während sie, den Hörer am Ohr, Fromentins gebieterische Stimme vernahm. Sie versprach, sich umgehend um die Angelegenheit zu kümmern und ihn so bald wie möglich zurückzurufen. Fromentin willigte schließlich ein. Allerdings nur unter der Bedingung, dass in Kürze eine zufriedenstellende Lösung gefunden würde, widrigenfalls würde die Universität Anzeige erstatten müssen.
Als sie aufgelegt hatte, fühlte Anke Barkowski wie ihr Herz laut pochte. In ihrem Büro lief sie unruhig auf und ab und überlegte, wie sie aus dieser Patsche herauskommen konnte. Es durfte auf keinen Fall zu einer Anzeige kommen. Leo Schneider anzurufen, war eine Möglichkeit, aber wie würde der reagieren? Sie kannte ihn zu wenig, um es einschätzen zu können. Schneider verhielt sich anders, als man es am LEAG gewohnt war. Ein Eigenbrötler, der nur seine Forschungen im Sinn hatte, seine Karriere am Institut schien ihm nicht so wichtig zu sein.
Mit dieser Meinung stand sie in der Fachgruppe nicht allein. Von Anfang an brachten Schneider und seine Assistentin Ausreden hervor, um möglichst selten am Gruppenfrühstück teilnehmen zu müssen. Prause und Malus waren nur am Lästern, noch mehr, seitdem die Französin bei Schneider war. Schneider und sein Harem hieß es, und Prause machte schlüpfrige Anspielungen, was Schneider und die beiden Frauen betraf.
Aber vielleicht wusste Schneider auch nichts von den Präparaten, die Sandrine Martin aus der Universität entwendet hatte? Vielleicht war sie nur nach Berlin gekommen, um hier allein und ungestört mit den patentierten Substanzen aus der Universität arbeiten zu können. Vielleicht hatte sie sogar vor, diese zu Geld zu machen und an den Meistbietenden zu verkaufen? Was war dann?
Der nächstliegende Schritt war, Sandrine Martin direkt auf die Sache anzusprechen. Als Gastwissenschaftlerin hatte sie in der Fachgruppe ohnehin nichts zu sagen. Wenn Sandrine Martin nicht kooperierte, würden Anke Barkowski ein paar Minuten genügen, um Bernhard Malus zu bewegen, den Vertrag mit der Französin fristlos zu kündigen. Ein Kündigungsgrund, eine Pflichtverletzung, eine Formalie fand sich immer. Malus käme das vielleicht sogar gelegen. Seine Erwartung, er könnte aus der Zusammenarbeit zwischen Schneider und der Martin Nutzen ziehen, hatte sich bisher nicht erfüllt.
Gedacht, getan, sagte sich Anke Barkowski. Entweder schickte Frau Martin die gestohlenen Proben sofort zurück oder sie musste das LEAG sofort verlassen. Fromentin konnte dann machen, was er wollte. Stichfeste Beweise gegen sie hatte er nicht, schließlich hatte sie ihm ja nur am Telefon erzählt, was sie aus Sandrine Martins Vortrag vor einem halben Jahr entnommen hatte.