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8. Université Paris-Sud, 1. Oktober 1990
ОглавлениеSandrine Martin war überrascht, als sie den auf Englisch abgefassten Brief aus Berlin in ihrem Postfach fand. Sie war zusammengezuckt, als sie das Wort Patulin las. Seit Monaten hatte Sandrine alles getan, um dieses Wort mit allen Kränkungen, die damit verbunden waren, zu vergessen. Sie hatte sogar daran gedacht, fortzuziehen und irgendwo neu anzufangen. Aber ihre Geldmittel reichten dafür nicht aus. Notgedrungen war sie doch am Institut für Lebensmitteltechnologie der Université Paris-Sud geblieben und hatte das Projekt aufgegriffen, das Professor Fromentin ihr als Ersatz für die Patulinstudie angeboten hatte. Sie musste akzeptieren, dass er ihr damit geholfen hatte. Trotzdem hasste sie ihn, weil er den Forderungen des Generalrats Théodore Leroy nachgegeben hatte. Sandrine war überzeugt davon, dass der heuchlerische Leroy die Leute schützte, die hinter der Verseuchung von Cidre und Calvados mit dem Pilzgift Patulin steckten.
Aber ohne Fromentins Hilfe konnte sie ihre Doktorarbeit nicht zum Abschluss bringen. Ihr blieben noch acht Monate ihres Stipendiums, um das von Fromentin angebotene Ersatzprojekt zum Abschluss zu bringen. Es ging um den Einsatz von Laktat zur Verlängerung der Haltbarkeit von Rohwürsten. Der große Wurf würde es nicht werden, aber Fromentin hatte ihr gegenüber etwas gutzumachen und das konnte sie für sich nutzen.
Seiner Forderung, ihm alle Daten aus der Studie zum Patulin im Calvados zu übergeben und alle dazugehörigen Proben zu vernichten, war sie nur scheinbar nachgekommen. Die Kopien ihrer Protokolle und die Proben, die sie nicht mehr weiter hatte untersuchen dürfen, waren an einem sicheren Ort verwahrt.
Der Brief in ihrer Hand stammte von Leo Schneider, aus einem staatlichen Institut für Lebensmittelsicherheit in Berlin. Der Name sagte Sandrine nichts, genauso wenig wie der seines Instituts. Schneider schrieb, er hätte durch eine Journalistin, Christine Bergmann, von ihren Arbeiten zu Patulin erfahren. Sandrine erinnerte sich. Es war die Frau gewesen, die durch ein Interview mit dem Generalrat Théodore Leroy von ihrer Arbeit gehört hatte.
Sie konzentrierte sich wieder auf den Brief. Leo Schneider lud sie ein, in Berlin einen Vortrag über ihre Forschungsergebnisse zu Patulin zu halten. Sandrine kratzte sich am Kopf, stecke sich eine Zigarette an und dachte nach. Bis zu ihrem Abschluss blieben ihr noch acht Monate. So, wie die Dinge jetzt standen, gab es danach keine Möglichkeit, weiter an der Universität zu arbeiten. Zwar hatte sie Fromentin nicht direkt daraufhin angesprochen, aber sein Verhalten sprach Bände. Formal gesehen verhielt er sich korrekt. Aber sie merkte ihm an, dass er froh war, mit dem Abschluss ihrer Arbeit auch das Kapitel Sandrine Martin abschließen zu können.
Vielleicht bot Schneiders Einladung ihr die Gelegenheit, anderswo Fuß zu fassen? Möglicherweise sogar ihre Arbeit über Patulin zum Abschluss zu bringen? Der Stellenmarkt für Lebensmittelchemiker war seit einigen Jahren ziemlich schlecht. Wenn es überhaupt Stellenangebote gab, dann aus der Industrie. Sandrine war überzeugt, dass ihr die Geschichte um das Patulin anhing und bei Bewerbungen zum Nachteil gereichen würde. Zumindest in Frankreich. Die Leute erkundigten sich, bevor sie sich jemanden ins Boot holten. Man hatte Angst vor Leuten, die den Mund nicht hielten, wenn es etwas zu vertuschen gab. Angst vor Nestbeschmutzern, auch wenn man diese nach außen hin für ihren Mut, Missstände aufzudecken, beklatschte. Die Wirklichkeit sah anders aus. Auf ihrer Arbeit wurden solche Leute isoliert, gemobbt, mit Gerichtsverfahren traktiert und im Extremfall sogar persönlich bedroht. Je nachdem, was auf dem Spiel stand, konnte das bis zur physischen Beseitigung der störenden Person gehen.
Sandrine hielt den Brief immer noch in ihrer Hand und blies nachdenklich einen dünnen Rauchfaden vor sich aus. Warum nicht für eine Zeit ins Ausland gehen? Im Lebenslauf von Wissenschaftlern kam so etwas immer gut an. Wenn sie später nach Frankreich zurückkehrte, hatten sich die Wellen, die ihre Untersuchungen ausgelöst hatten, vielleicht schon gelegt.
Schneider hatte geschrieben, er würde sich um die Finanzierung ihrer Vortragsreise nach Berlin kümmern. Bei Interesse sollte sie ihm einen Brief oder ein Fax mit dem Titel ihres Vortrags schicken und ihm außerdem mitteilen, wann es zeitlich für sie passte, nach Berlin zu kommen.
Vielleicht konnte ein neuer Job für sie dabei herausspringen? Sandrine kaute nervös an ihrem Daumennagel. Schließlich raffte sie sich auf und schrieb ihm ein paar Zeilen zur Antwort. Sie würde gerne kommen, aber hätte kein Geld für die Reisekosten und Übernachtung. Sie schaute in ihren Kalender und machte Terminvorschläge für Zeiten, an denen sie abwesend sein konnte, ohne sich vor Fromentin dazu erklären zu müssen. Das Faxgerät im Sekretariat wollte Sandrine nicht benutzen, Fromentins Sekretärin, Madame Cassou, war neugierig und als Plaudertasche bekannt. Sandrine wollte ihre Antwort an Schneider lieber auf dem Heimweg in einen Briefkasten stecken.
Sie suchte nach Streichhölzern, zündete sich eine neue Zigarette an und lehnte sich in ihrem Bürostuhl zurück. Wie weit durfte sie in ihrem Vortrag in Berlin gehen? Konnte sie dort ihre bisher unveröffentlichten Forschungsergebnisse über Patulin vorstellen? Und wenn jemand in Schneiders Institut saß, der Fromentin alles berichtete? Das war zwar unwahrscheinlich, aber immerhin denkbar. Fromentin würde das als Vertrauensbruch auslegen, sich nicht mehr an sein Versprechen gebunden fühlen und ihre Promotion vielleicht zum Platzen bringen. Aber Sandrine war ein Mensch, der ein Risiko nicht scheute. Nach dem, was sie durchgemacht hatte, konnte sie die skandalöse Geschichte um den Calvados und das Patulin nicht für sich behalten.
Es klopfte an der Tür. Ohne ihre Antwort abzuwarten, betrat Fromentin ihr Büro. Sandrine hatte gerade noch Zeit, den Brief unter ihre Laborprotokolle zu schieben, bevor Fromentins neugieriger Blick etwas davon mitbekam.