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13. Berlin, Friedrichstraße, 15. April 1991

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Christine Bergmann überkamen zwiespältige Gefühle, nachdem Herbert Kunze, der Chefredakteur von AFT-Kultur, sie zu einer Besprechung in sein Büro in der Friedrichstraße eingeladen hatte. Der Sender war kurz nach der Wende in ein Bürohaus im Bezirk Mitte eingezogen. Hier herrschte noch das Flair des alten Ostberlin. Allerdings hatte man an vielen Stellen schon damit begonnen, die Fahrbahn aufzubrechen und Baugruben auszuheben, um die Friedrichstraße in eine Einkaufsmeile zu verwandeln, die dem Kurfürstendamm in Westberlin Konkurrenz machen sollte.

Herbert Kunze hatte ihr keinen konkreten Grund für das Treffen genannt, nur gemeint, es ginge um ihre berufliche Zukunft und das wollte er gerne mit ihr persönlich bereden. Berufliche Zukunft, darunter konnte man sich alles Mögliche vorstellen, und daher verging die Zeit bis zum Gesprächstermin mit Herbert Kunze viel langsamer, als Christine es normalerweise gewohnt war. An diesem Tag war sie sehr zeitig von ihrer Wohnung aus aufgebrochen. Von den S-Bahnhöfen Friedenau bis Friedrichstraße dauerte die Fahrt nur einige Minuten, jedoch wollte sie keinesfalls zu spät kommen. Sie kannte den S-Bahnhof Friedrichstraße noch als Grenzübergang zwischen West- und Ostberlin und sah die Abfertigungshalle, die später unter dem Namen Tränenpalast in eine Disco umgewandelt worden war. Vom S-Bahnhof lief sie die Friedrichstraße in südlicher Richtung, überquerte den Boulevard Unter den Linden, bis sie schließlich vor dem aus den achtziger Jahren stammenden Bürogebäude stand. Als Christine die Flügeltür zum Eingang des Hauses aufstieß, roch es noch nach den typischen Reinigungsmitteln, die sie aus früheren Besuchen in der DDR kannte.

Christine verzichtete darauf, den Fahrstuhl zu benutzen und lief mit eiligen Schritten die Treppen hoch bis in die vierte Etage. Herbert Kunze sollte ihr die Aufregung nicht anmerken. Ihr heftiger Atem und ihr gerötetes Gesicht ließen sich gut mit der Anstrengung beim Treppensteigen erklären, worauf sie ihn scherzhaft hinwies. Christine rechnete mit allem, einschließlich ihrer Entlassung. Sie wusste nicht, wie AFT finanziell dastand und mit dem neu gegründeten deutsch-französischen Fernsehsender ARTE war ihrem Sender eine bedeutende Konkurrenz entstanden.

Herbert Kunze empfing sie in seinem modern eingerichteten Büro mit Kaffee und Gebäck. Kaum hatte sie sich hingesetzt, stimmte er ein Loblied auf ihre Kulturreportagen aus Frankreich an. Ihre Sendungen wären beim Publikum sehr gut angekommen und daher wollte man ihr bei AFT mehr Entwicklungsmöglichkeiten und Kompetenzen einräumen. Daher wollte man sie gerne dafür gewinnen, mit ihrem Arbeitsplatz ab dem 1. Juni von Berlin nach Paris zu wechseln.

Christine war auf alles gefasst gewesen, nur nicht, in Kürze nach Paris zu ziehen. Es dauerte einen Moment, bis sie Herbert Kunzes Vorschlag in seiner Tragweise erfasst hatte. Paris, das war natürlich verlockend.

„Sie werden in Paris natürlich nicht nur auf sich allein gestellt sein, sondern bekommen Unterstützung durch ein festes Team von Mitarbeitern. Ihr Arbeitsplatz befindet sich in Issy-les-Moulineaux, unser Hauptsitz in Frankreich. Von dort können Sie Ihre Reportagen viel effizienter planen und koordinieren.“

Nachdem er ihr das eröffnet hatte, lehnte sich Kunze in seinem Sessel zurück, trank seinen Kaffee und beobachtete Christine, wie sie seine Ankündigung aufnahm.

Christine war von Kunzes Ankündigung überwältigt. Nach seinem Gesichtsausdruck erwartet er wohl, dass sie ihm vor Dankbarkeit um den Hals fiel. Ein Leben in Paris, das hatte sie sich schon immer erträumt und wollte seinem Vorschlag spontan zustimmen, aber dann zögerte sie doch.

Was würde aus ihr und Leo werden? Leo war durch seine Arbeit am LEAG für die nächsten Jahre an Berlin gebunden. Er würde nicht ohne ein gutes Stellenangebot mit nach Paris gehen. Auch dann nicht, wenn sie dort so viel verdiente, dass sie ihn auch ohne Anstellung problemlos hätte mit durchfüttern können.

Aber da war noch etwas anderes. Ihre Beziehung hatte in letzter Zeit gelitten. Das spürte sie in diesem Moment ganz deutlich. Sie konnte nicht sagen, woran oder an wem von ihnen beiden es lag. Irgendetwas hatte sich unmerklich langsam wie ein Keil zwischen sie geschoben und ihre Liebe allmählich abgehobelt. In Momenten wie jetzt, wo ihre Beziehung auf den Prüfstand kam, wurde deutlich, wie wenig noch davon übriggeblieben war.

Ob es die häufigen Trennungen wegen ihrer Reportagen waren oder Leos täglicher Frust mit den Leuten und der Bürokratie am LEAG? Sie konnte es nicht sagen. Vielleicht war es auch nur diese Phase, die fast jede Beziehung durchmachte, wenn die Zeit der ersten Leidenschaft vorbei war? Vielleicht war ihre Liebe aber auch allmählich erkaltet wie die Tasse Kaffee, die immer noch unberührt vor ihr auf dem Tisch stand? Christine dachte an den Tag, als Leo sie fragte, ob ihre Bemerkung auf der Postkarte mit den Kühltürmen einen tieferen Sinn gehabt hatte? Damals hatte sie gelacht und gemeint: „Du willst hinter allem eine tiefere Bedeutung sehen! Wer ist denn hier Journalist, du oder ich?“

Sie stritten halb scherzhaft noch eine Weile darüber, waren ins Bett gegangen, hatten zusammen Spaß gehabt und das Thema danach nicht wieder angesprochen. Jetzt, wo sie vor der Entscheidung stand, Berlin und damit auch Leo zu verlassen, schien es ihr, als hätte damals ihr Unterbewusstsein doch auf den Zustand ihrer Beziehung angespielt.

Herbert Kunze merkte, was in Christine vorging. Die zwiespältigen Gefühle konnte er an ihrem Gesicht ablesen. Als Chef hatte er solche Momente schon öfter erlebt. Persönliches und Berufliches gingen nicht immer gemeinsame Wege, das musste er auch an sich selbst erfahren. Hatte er in seinem Leben immer die richtigen Entscheidungen getroffen? Beruflich schien es so gewesen zu sein, sonst säße er nicht hier auf dem Stuhl des Chefredakteurs. Und das Berufliche hatte bei ihm vor dem Privaten immer Vorrang gehabt.

Er merkte deutlich, Christine Bergmann stand mit ihren Gefühlen auf der Kippe. Sie brauchte nur noch einen Anschubser, um in die richtige Richtung zu fallen. Deshalb wählte er mit Bedacht Worte, die ihren Widerstand wie eine Axt zu Fall brachten.

„So ein Angebot bekommen Sie nicht alle Tage, Christine. Vermutlich nur dieses eine Mal. Selbst wenn Sie in Berlin privat gebunden sind - ich bitte Sie - das ist doch heutzutage keine Entfernung. Nicht einmal zwei Stunden mit dem Flieger inklusive allem drumherum.“

Als mit diesen Worten auch ihre Bedenken gefallen waren, lächelte er sie an. Er sah es ihr an, dass sie sich in diesem Moment entschieden hatte. Sie würde das Angebot annehmen.

Nur gut, dass Herbert Kunze und Leo sich nicht persönlich kannten, ging es Christine durch den Kopf, während sie die letzten Stufen im Treppenhaus des Senders hinunterrannte. Sonst hätte es noch ein Treffen zu dritt mit unangenehmen Diskussionen gegeben. Sie sah sich bereits in Paris. Das Angebot vom Sender war eine Riesenchance für sie, da gab es kein Wenn und Aber.

Christine dachte zurück an die Zeit, seit der sie mit Leo verbunden war. Ihre Beziehung war von Beginn an auf gegenseitige Freiheit bedacht gewesen. Weder Leo noch sie selbst hatten den Wunsch geäußert, eine gemeinsame Wohnung zu beziehen, geschweige denn eine Familie zu gründen und Kinder zu haben. Trotzdem fühlten sie sich eng miteinander verbunden. Christine war in der Zeit mit Leo auch nicht das Bedürfnis gekommen, auszubrechen, um andere Männer kennenzulernen, auch wenn sie öfters dazu Gelegenheit gehabt hatte.

Wie würde Leo reagieren, wenn sie ihm eröffnete, in nicht einmal sechs Wochen ginge sie nach Paris? Christine war sich nicht einmal sicher, wie er das aufnehmen würde. War das nicht ein klares Zeichen, dass sie ihn zu wenig kannte? Genauso wenig wie er mich kennt, sagte sie sich. Sie hatten beide ihre Beziehung einfach nur so gelebt und es vermieden, über die Zukunft zu reden. Es hatte ja auch keinen konkreten Anlass dafür gegeben. Vielleicht rächte sich das jetzt?

Aber sie wollte ihn doch nicht verlieren!

„Meinst du damit den Freund oder den Geliebten?“ Die Stimme ihrer Gedanken ließ sich nicht so leicht zum Schweigen bringen. Sie suchte in ihren Gefühlen nach einer Antwort, als sie den Weg zurück zum S-Bahnhof Friedrichstraße lief. Aber es gab sie nicht. Nur eins war klar, sie wollte noch heute Abend mit Leo darüber reden.

Fallobst

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