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6. Berlin-Dahlem, 3. September 1990

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Es war Montagmorgen und Leo erinnerte sich an das vergangene Wochenende und die schönen Stunden, die er gemeinsam mit Christine verbracht hatte. Heute war sein erster Arbeitstag am LEAG. Der Himmel war so grau, wie er schon am Wochenende gewesen war, aber immerhin regnete es nicht mehr.

Als Leo das Gelände des LEAG betrat, überkam ihm eine Ahnung, als gehöre sein bisheriges Leben einer Vergangenheit an. Eine Zeit, die mit dem heutigen Tag ihren unwiderruflichen Abschluss gefunden hatte. Die Arbeit an der Hochschule war ihm eher wie eine Verlängerung seiner Studentenzeit erschienen. Er hatte sich damit die Illusion eines Lebens bewahrt, das mit dem Alltag an einer Behörde schwer in Einklang zu bringen war.

Sein erster Gang in seiner neuen Dienststelle führte ihn in das Verwaltungsgebäude, ein grauer vierstöckiger Betonriegel aus den sechziger Jahren. Der Vormittag war dafür vorgesehen, dort diverse Unterschriften zu leisten, mit denen seine Anstellung amtlich besiegelt werden sollte.

Als er über den langen, vom Neonlicht spärlich beleuchteten Flur ging, um das für sein Anliegen zuständige Büro zu suchen, sah er dort eine große, nach vorne gebückte Gestalt vor einer Tür stehen. Die Schultern und Arme zusammengepresst, wie eine Inkarnation der Demut, wartete der Mann auf Einlass in ein Büro, vor dem er stand wie vor einem Heiligtum, an dessen Pforte er kaum gewagt hatte, anzuklopfen. Wie ein Blitz durchfuhr Leo eine Vorahnung, was ihn hier erwarten würde. Die wenigen Menschen, die er hier sah, begegneten ihm wortlos mit abgewandtem Blick. Sie wirkten dabei wie Schatten, an denen er vorüberging. Aus ihren Gesichtern sprach Angst, Resignation oder Leere. Abgestumpftheit. Welchen Sinn sah man dann noch in seiner Existenz? Leo wurde plötzlich unsicher, wer er selbst noch war, in dieser Umgebung.

Er sprach jemanden auf dem Flur an und fragte nach dem besagten Büro. Ihm begegnete kaum verhülltes Misstrauen, garniert mit knapper Information: Raum B232 zweiter Stock, erster Flur links. Leo ging weiter, vorbei an einer schier endlosen Reihe von Türen. Er lief über voneinander abzweigende Flure, die ihm wie ein Labyrinth erschienen. Die Reihe der geschlossenen Türen wirkte mit ihrem glänzenden Anstrich wie die Phalanx eines antiken Heeres, das ihm seine spiegelnden Schilder bedrohlich entgegenhielt.

Eintritt nur nach Aufforderung. Versteckte sich hinter diesem Hinweis auf der Tür nicht die Angst, bloßgestellt zu werden in der eigenen Überflüssigkeit? Schließlich fand er das gesuchte Büro. Leo überlegte einen Moment, was er gerade im Begriff war, zu tun.

Der gespenstische Eindruck war so plötzlich verflogen, wie er gekommen war. Leo klopfte kurz an. Er öffnete die Tür, noch bevor er dazu aufgefordert wurde. Nachdem er den Stapel Formulare ausgefüllt und unterschrieben hatte, machte er sich auf den Weg über das Gelände des LEAG. Sein Ziel war das Haus 23. Das Gebäude, in dem ihn sein zukünftiger Vorgesetzter, ein Herr Dr. Bernhard Malus und eine wissenschaftliche Mitarbeiterin aus Malus Fachgruppe, Frau Dr. Anke Barkowski-Gertenbauer, erwarteten.

Bernhard Malus war ein Mann von untersetzter, kompakter Statur, ohne dadurch übermäßig beleibt zu wirken. Leo schätzte ihn etwa auf Mitte bis Ende vierzig. Sein Haar war so schwarz wie sein Jackett, welches mit der blassblauen Krawatte über einem weißen Hemd kontrastierte. Anke Barkowski-Gertenbauer hatte dunkelblonde, halblange Haare. Sie schien jünger als Bernhard Malus, aber in ihrem dezent geschminkten Gesicht hatten sich um die Mundwinkel harte Züge eingegraben, die ihr Gesicht älter erscheinen ließen. Sie war geschmackvoll gekleidet und trug ein halblanges, rötliches Kostüm, dazu farblich passende hochhackige Schuhe, in denen sie Malus um fast eine Kopfeslänge überragte.

Nachdem sie sich vorgestellt hatten, gingen sie über das Institutsgelände an Büschen und Bäumen entlang, bis sie zu einem rosa gestrichenen Flachbau gelangten. In diesem Gebäude befand sich Leos künftiger Arbeitsplatz, der sich als ein Büro mit zwei dazugehörigen Laborräumen herausstellte. Eines der beiden Labore war mit einem Abzug für das Arbeiten mit giftigen Lösungsmitteln ausgestattet. In dem anderen Labor stand eine Werkbank für Sterilarbeiten, eine etwas in die Jahre gekommene Kühlzentrifuge sowie ein paar Kleingeräte auf den Tischen. Zusammengenommen war das bei weitem zu dürftig, um ein modernes Untersuchungslabor betreiben zu können.

„Da muss man aber noch einiges an Geräten anschaffen, um hier ein Labor für die Mutagenitätstestung zum Laufen zu bringen“, bemerkte Leo verdrossen. Die Besichtigung der Räume hatte ihn ernüchtert, was seine beruflichen Zukunftsaussichten betraf.

Bernhard Malus schien über Leos Bemerkung erstaunt zu sein. „Das müssen Sie alles gesondert beantragen, Herr Schneider. Es sollte prinzipiell kein Problem sein, da Gelder für dieses Projekt reserviert worden sind.“

Nach diesen Worten sah Leo seinen neuen Chef genauer an. Ein untersetzter Mann mit dunklen Augen, dessen wächserne, bleiche Haut mit seinen pechschwarzen, nach hinten gekämmten Haaren kontrastierte.

„Allerdings müssen Sie sich beeilen, damit es für das nächste Jahr auch noch klappt. Sonst können Anschaffungen von Großgeräten erst wieder im darauf folgenden Haushaltsjahr vorgenommen werden.“ Malus Stimme hatte inzwischen einen belehrenden Tonfall angenommen.

Leo glaubte, nicht recht gehört zu haben. Malus, der um einen Kopf kleiner war als er, hatte sich vor ihm postiert. Leo entdeckte kleine Fetteinlagerungen, die sich wie Inseln im Gesicht des Mannes verteilten, das dadurch merkwürdig uneben wirkte.

„Wo das Projekt doch nur auf drei Jahre begrenzt ist, da werden die Geräte erst im dritten Jahr angeschafft? Mir erscheint ein so zeitraubendes Verfahren als nicht sehr sinnvoll.“

Malus verzog spöttisch seine Mundwinkel und sah Anke Barkowski vielsagend an. „Also ich weiß nicht, wie Sie es bisher kennengelernt haben, Herr Schneider, aber am LEAG müssen die Regeln für das Bestellwesen und das Haushaltsjahr eingehalten werden. Am besten Sie setzen sich gleich daran, eine Liste von der Ausstattung anzufertigen, die Sie in nächster Zeit am dringendsten brauchen.“

Malus beugte sich dicht vor und sein zugeknöpftes Jackett verzog sich dabei, so dass es auf merkwürdige Weise von seinem Oberkörper abstand.

„Sicherlich gibt es das eine oder andere Gerät, das Sie für den Anfang bei den anderen Arbeitsgruppen im LEAG mitbenutzen können“, meinte Anke Barkowski beschwichtigend. „Morgen erwarten wir übrigens Frau Kollberg, Ihre zukünftige technische Assistentin. Frau Kollberg kann Ihnen dann bei der Aufstellung der ganzen Materialien, die Sie brauchen, behilflich sein.“

Leo nickte dankbar und lächelte seiner neuen Kollegin tapfer zu. Anke Barkowski wirkte entgegenkommender als sein Vorgesetzter Bernhard Malus.

Viel wusste Leo nicht über seine neu eingestellte Assistentin Bernadette Kollberg, außer, dass sie frisch aus der Ausbildung kam. Er kannte ihr Profil nur aus den Bewerbungsunterlagen, die sie ihm in der Verwaltung vorgelegt hatten. Malus hatte aus den Bewerbungen eine ihm passende Bewerberin ohne Absprache mit Leo ausgewählt.

„Ihre anderen Kolleginnen und Kollegen aus der Fachgruppe Toxikologie werden Sie dann morgen beim Frühstück kennenlernen“, sagte Malus. „Ich führe Sie dann offiziell in die Fachgruppe ein.“

Das klang weniger wie eine Einladung, sondern mehr nach einer Anweisung. Und was hatte es mit dem Frühstück auf sich? Fing man hier so früh mit der Arbeit an, dass man morgens nach dem Aufstehen noch nichts herunter bekam?

„Um welche Uhrzeit ist das dann genau?“, fragte Leo besorgt nach.

„Punkt zehn Uhr im Haus 23. Dort, wo wir uns vorhin getroffen haben. Sie werden den Frühstücksraum schon finden.“

Bernhard Malus und Anke Barkowski-Gertenbauer sahen sich beide an. Von ihrer Seite war alles gesagt und sie schienen zufrieden zu sein, sich nunmehr verabschieden zu können.

„Dann lassen wir Sie jetzt allein, damit Sie sich in Ruhe einrichten können.“ Anke Barkowski machte einen Schritt zur Tür.

Bernhard Malus rührte sich nicht vom Fleck. Er war es, der bestimmte, wann sie gingen.

„Nach dem Frühstück möchte ich mit Ihnen beiden und Herrn Dr. Prause über das Lindangutachten reden.“ Er bedachte Leo und Anke Barkowski jeweils mit einem festen Blick. „Gut, Herr Schneider, dann lassen Sie sich jetzt nicht weiter von uns aufhalten.“

Nachdem das ungleiche Paar gegangen war, setzte sich Leo auf einen der im Raum stehenden Laborstühle und ließ die Eindrücke auf sich wirken. Er stieß sich mit den Füßen leicht vom Boden ab und rollte mit dem Stuhl durch das leere Labor. Dabei besah er die Wände, die Decke und schaute schließlich aus dem Fenster. Klein erschien ihm sein neuer Bereich, und als er ins Freie schaute, bemerkte er, dass das Fenster von außen mit einer Folie aus Gaze verspannt war. Ein Blick wie aus einer Zelle! Seine Augen glitten über einen Hof, der so langweilig aussah, wie ein Parkplatz vor einer Wohnanlage. In dafür vorgesehenen Parkbuchten standen ein paar Autos, auf dem Hof war niemand zu sehen.

Im Haus war es still. Wer arbeitete noch hier? Leo hatte vergessen, die beiden danach zu fragen. Neugierig geworden, ging er in den Flur und lauschte. Hier musste doch irgendwo noch jemand sein? Aber er hörte keinen Laut. Einen größeren Kontrast zu seiner alten Arbeitsstelle an der Universität hätte er sich kaum vorstellen können. Dort war immer etwas los gewesen, für seinen Geschmack manchmal zu viel. Hier aber wirkte die Stille gespenstisch.

Zehn Uhr Frühstück. Es schien sich mehr um eine Arbeitsbesprechung zu handeln, die man beschönigend als Frühstück bezeichnete. Leo kannte so etwas Ähnliches von der Uni. Da gab es die wöchentliche Veranstaltung, die allgemein als Tee bezeichnet wurde.

„Vergiss nicht, morgen um neun ist Tee“, wurde man von der Institutssekretärin am Vorabend erinnert. Es hatte weniger mit dem Getränk an sich zu tun, sondern war ein Seminar für Studenten, bei dem sie die Ergebnisse aus ihren Arbeiten vortragen mussten. Vorsingen, nannten das ironischerweise manche der Professoren. An die Vorträge schlossen sich regelmäßig Diskussionen an. Während die Studenten vorsangen, rauchten die Professoren Pfeife, tranken Kaffee oder eben den besagten Tee. Die Kandidaten rutschten derweil unruhig auf ihren Stühlen herum, in Erwartung kritischer Fragen, die manchmal in eine spontane Prüfung ausarten konnten.

Studenten gab es am LEAG zwar nicht, aber Leo Schneider war gespannt auf seine neue Assistentin und neugierig darauf, die anderen Mitglieder der Fachgruppe Toxikologie kennenzulernen.

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