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3. Université Paris-Sud, 16. August 1990
ОглавлениеAls sie den Hörer aufgelegt hatte, zitterte Sandrine Martin so sehr, dass sie die Tasse mit dem Kaffee in ihrer Hand nicht stillhalten konnte und einen Teil davon verschüttete. Der dunkle Kranz um ihr linkes Auge, den sie der Faust dieses Dreckskerls zu verdanken hatte, war mittlerweile von Dunkelblau zu einem grünlichen Farbton gewechselt. Danach würde er gelb werden, blasser und irgendwann auch nicht mehr zu sehen sein. Die anderen Verletzungen, die ihr zugefügt worden waren, sah man nicht auf den ersten Blick. Genauso wenig wie die Angst, die sich auf Dauer in ihrem Kopf eingenistet zu haben schien.
Im Institut hatten sich alle mit ihr solidarisiert, als sie sahen, wie übel zugerichtet sie am Montag zurückgekommen war. Aber in den Tagen danach begann sie zu spüren, wie ihre Kollegen allmählich von ihr abrückten. Pierre Duval, der für sie die Untersuchungen der Proben am Massenspektrometer vornehmen sollte, meinte plötzlich, das dafür benötigte LC-MS/MS Gerät wäre für dringendere Projekte reserviert, und vertröstete sie von einer Woche auf die andere.
Dann hatte Professor Fromentin, der Dekan der Fakultät, sie überraschend zu einem Gespräch gebeten. Sandrine, die anfangs noch geglaubt hatte, er würde ihr Projekt weiterhin unterstützen, wurde eines Besseren belehrt. Eugène Fromentin knetete nervös die Finger seiner Hände, als Sandrine in sein Büro kam. Nachdem er sie gebeten hatte, sich doch zu setzen, war er allmählich damit herausgerückt, worum es ihm wirklich ging. Sie sollte mit dem Projekt aufhören, jetzt, nachdem sie bereits sechs Monate Arbeit mit dem Literaturstudium, der Einrichtung des Labors, der Dokumentation und der Probenentnahme verbracht hatte. Alles für die Katz. Dabei war es ursprünglich seine Idee gewesen, sie hatte Gefallen daran gefunden und die ersten Ergebnisse waren vielversprechend. Der Dekan bot ihr an, mit einer neuen Arbeit zu beginnen. Und ihr Stipendium? Sandrine war finanziell darauf angewiesen. Sechs der achtzehn Monate Förderzeit waren bereits verstrichen. Nun sollte sie noch einmal bei null anfangen? Sie hatte geheult, aber Fromentin hatte sich abgewendet und ihr wortlos eine Packung Papiertaschentücher über den Schreibtisch geschoben.
„Sagen Sie mir einen sachlichen Grund, warum ich das Forschungsvorhaben jetzt plötzlich beenden soll?“, hatte Sandrine mit verweinten Augen gefragt.
Der nüchterne Akademiker Fromentin mochte keine Gefühlsausbrüche. Er sah seine Studentin nicht an und ließ seine Augen durch den Raum wandern. Die Sache war ihm sichtlich unangenehm, und er hatte nur erwidert, die Fakultät existiere nicht im luftleeren Raum und sei auf Unterstützung von außen angewiesen. Gewisse Dinge hätten sich eben anders entwickelt, als man ursprünglich gedacht hatte. Das müsse man akzeptieren und mehr könne er dazu nicht sagen. Ob sie denn wirklich ernsthaft glaube, sie könne nach dem Vorfall weiter an diesem Projekt arbeiten? Sandrine Martin sollte sich in der Gegend besser nicht mehr sehen lassen, hatte der Generalrat aus Bonnesource am Telefon betont.
Schließlich hatte ihr der Dekan angeboten, das Projekt eines Doktoranden, der seine Arbeit aus persönlichen Gründen abgebrochen hatte, weiterzuführen. Da gab es bereits Ergebnisse aus den Vorarbeiten, und so wären die sechs Monate ihrer Förderzeit auch nicht verloren.
Sandrine hatte sich Bedenkzeit erbeten und Fromentin entließ sie mit aufmunternden Worten: „Nehmen Sie sich Bedenkzeit, Mademoiselle Martin, aber warten Sie auch nicht zu lange.“ Danach hatte er sie aus der Tür seines Büros sanft, aber bestimmt hinauskomplimentiert.
Sandrines Kaffee war inzwischen kalt geworden. Fromentin war ein Opportunist, aber in einem hatte er recht. Nach dem, was passiert war, konnte sie sich im Pays d’Auge nicht mehr sehen lassen. Zwar hatte sie bereits genug Proben für die Analysen genommen, aber was half das noch? Sie durfte die Proben nicht weiter untersuchen. Wahrscheinlich wäre es sogar besser für sie, die Universität zu wechseln.
Gestern war ein Brief für sie angekommen, ohne Absender. „Wir können es dir auch von hinten besorgen, wenn du nicht Vernunft annimmst, du Schlampe!“, stand auf der Rückseite des Fotos, das sie voller Entsetzen angestarrt hatte. Während dieser schrecklichen Stunden hatte sie nicht mitbekommen, dass jemand ihre schlimmsten Momente fotografisch festgehalten hatte.
Und heute war dieser Anruf gekommen. Von einer Frau, angeblich Journalistin. Im ersten Moment hatte Sandrine gedacht, es wäre vielleicht diejenige, die dabei gewesen war. Sie hatte die Gesichter der Gaffer in der Scheune nicht sehen können, wusste nicht einmal, wie viele es gewesen waren. Nach dem Faustschlag war sie benommen zu Boden gegangen. Als sie wieder zu Bewusstsein gekommen war, hatte man ihr einen Sack über den Kopf gestülpt. Sie lag auf dem Rücken und das Gewicht des Mannes, der sie gerade vergewaltigte, drückte sie erbarmungslos nieder. Sie hatte nicht die Kraft gehabt, sich zu wehren. Auch dann nicht, als er ihr seine Zunge in den Mund drückte und danach die Flasche mit dem Fusel, von dem sie notgedrungen trinken musste. Und das Foto davon hatten sie ihr geschickt. Ihr Kopf war halb von dem des Mannes verdeckt, aber was da gerade stattfand, war auf dem Foto deutlich zu sehen. Und die Drohung auf der Rückseite des Fotos war es auch.
Für einen Moment hatte sie bereut, nicht gleich zur Polizei gegangen zu sein. Vielleicht hätte man den Kerl auf dem Foto auch von seinem Hinterkopf her identifizieren können? Aber das hätte sie gleich nach der Vergewaltigung machen müssen. Ins Krankenhaus gehen, dort hätte man ihren Zustand dokumentiert und Abstriche genommen, dachte sie bitter. Spermaproben, um die Täter zu überführen. Aber selbst das hätte ihr wahrscheinlich nichts genützt. Die in der Scheune dabei gewesen waren, hätten alle bezeugt, dass sie freiwillig bei einer kleinen Orgie mitgemacht hatte.
Stattdessen hatte sie nach ihrer Rückkehr selbst bei sich Vaginalabstriche vorgenommen und diese in Probenröhrchen eingefroren. Nur sie wusste, was sich hinter den Kürzeln auf den Röhrchen verbarg. Und diese Scheusale sollten nicht glauben, ungeschoren davonzukommen. Weder für die Panschereien mit dem Calvados noch für das, was sie ihr angetan hatten. Der Tag der Abrechnung würde kommen.
Sandrine konnte sich nicht mehr daran erinnern, was in den Stunden nach ihrer Vergewaltigung passiert war. Sie hatte das Bewusstsein verloren und irgendwann mussten sie von ihr abgelassen haben. Als sie wieder aufwachte, war es bereits dunkel und sie lag im Gras auf einer feuchten Wiese. Es war kalt geworden und der Brechreiz überkam sie, immer wieder, bis es nichts mehr zum Auskotzen in ihrem Magen gab. Als sie festgestellt hatte, dass ihre Verletzungen nicht zu schwer waren, war sie über die Landstraße nach Blagny gehumpelt, wo sie ihr Auto abgestellt hatte.
Bei der Rückfahrt nach Paris war es ihr wie eine Ewigkeit vorgekommen, bis sie am frühen Morgen in ihr kleines Appartement im Studentendorf in Orsayville gelangt war. Dort hatte sie zwei Tage zusammengekrümmt wie ein Embryo im Bett gelegen, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Erst am Montag, an dem ihre Rückkehr eingeplant war, tauchte Sandrine wieder in ihrem Institut auf. Ihren Kollegen hatte sie erzählt, man hätte ihr ins Gesicht geschlagen, sie wäre ohnmächtig geworden und hätte den Schläger nicht erkannt. Aber sie wusste, dass Patrick Guérin der erste der beiden Männer gewesen war, die sie vergewaltigt hatten.
Und jetzt hatten sie vielleicht vor, sie mit einer Frau in die Falle locken. Wenigstens eine Frau hatte bei ihrer Vergewaltigung zugeschaut und vulgäre Gemeinheiten von sich gegeben, als sie am Boden lag und alles hilflos über sich ergehen lassen musste.
Aber da war der Akzent. Die Frau, die gerade angerufen hatte, hatte einen leichten Akzent. Sie hatte sich als Christine Bergmann vorgestellt. Eine Deutsche, Journalistin bei dem deutsch-französischen Radiosender AFT. Der Akzent passte dazu, obwohl die Frau ansonsten perfekt Französisch sprach. Sandrine konnte sich nicht erinnern, bei ihren Exkursionen entlang der Route du Calvados einer Deutschen begegnet zu sein. Trotzdem wollte sie Vorsicht walten lassen.
Sie hatte sich mit der angeblichen Journalistin im Labor verabredet, nachdem diese ihr erklärt hatte, sie interessiere sich für ihre Untersuchungen an Giftstoffen im Calvados. Woher sie davon wüsste, hatte Sandrine gefragt, und die Frau sprach von Andeutungen, die ihr während einer Reportage in der Normandie zu Ohren gekommen seien. Sie wirkte ehrlich und Sandrine hatte sich vorgenommen, sie zumindest anzuhören. Zur Sicherheit hatte sie sich aber eine Spritzflasche mit konzentrierter Natronlauge in Reichweite gestellt. Wenn diese Frau von denen geschickt worden war, um sie zu bedrohen, würde sie sich danach im Spiegel nicht mehr wiedererkennen können.