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b) Strukturen und Kontinuitäten:
Zwischen fränkischem und deutschem Reich
ОглавлениеDie Entscheidung von 911 erweist sich ebenso als Ergebnis der spätkarolingischen Entwicklung wie die des Jahres 887, als Karl III., der als damals einziger handlungsfähiger Karolinger im gesamten Frankenreich als König anerkannt worden war und sogar das Kaisertum erlangt hatte, von seinen Großen verlassen wurde. Sein Neffe Arnolf, der seine Machtbasis als Organisator und militärischer Befehlshaber in Kärnten im südöstlichen Grenzraum des Reichs hatte, wurde von Großen zum König erhoben, die ausnahmslos östlich des Rheins zuhause waren. Während der neue ostfränkische König bald auch in Lothringen Anerkennung fand, wurden in anderen Regionen des Großreichs andere Könige erhoben. Die jetzt hervortraten, waren im Gefolge verschiedener karolingischer Könige aufgestiegen, hatten mit den Karolingern Eheverbindungen geschlossen, wichtige königliche Herrschaftspositionen und Ressourcen zu Lehen erhalten und vor allem militärische Kommandos mit entsprechender Ausstattung wahrgenommen. Nicht ethnische Identitäten und Stammesstrukturen, sondern die regionale Konzentration der Machtpositionen führender Familien, deren generationenübergreifende Behauptung militärischer und adminstrativer Kommandogewalt sowie die Kontinuität der vertikalen und horizontalen Bindungen und Loyalitäten innerhalb der adeligen Führungsschicht waren entscheidend für den Zuschnitt der neuen Herrschaftsbereiche.
Den gemeinsamen Rahmen dieser verschiedenen Faktoren bildeten die politischen Strukturen des karolingischen Reichs, die wir unter dem Begriff der regna fassen.
Regna Politische Strukturen auf verschiedenen Ebenen der Herrschaftsgliederung und Verwaltung des karolingischen Frankenreichs. Einzelne regna können einen Karolinger als Unterkönig oder auch einen dux (Herzog) an ihrer Spitze haben; bei den Herrschaftsteilungen seit der Zeit Ludwigs des Frommen (813–840) erhielten die Herrschersöhne jeweils mehrere regna als ihren Herrschaftsbereich, der im Ganzen auch wieder als regnum bezeichnet werden konnte. Regna können in etwa mit einem ursprünglichen gentilen Siedlungsbereich zusammenfallen und deshalb die gentile Bezeichnung tragen; trotzdem ist ihr Zuschnitt jeweils karolingischer Herkunft, und die neuen duces (Herzöge), die am Beginn des 10. Jahrhunderts an die Spitze solcher regna treten, agieren nicht auf gentiler Grundlage im Horizont eines Stammes, sondern auf politischer Grundlage im Horizont der politischen und sozialen Strukturen eines karolingischen regnum.
Königliche Ressourcen und Ämter der Adelsfamilien waren auf diese regna bezogen, und die Großen des Reichs fanden den Bezugspunkt ihrer Interessen und ihres poli tischen Handelns am Hof eines der karolingischen Herrscher, die jeweils eines oder mehrerer solcher regna beherrschten. Die Kontinutität dieser Strukturen und vor allem die Kontinuität der personalen Bindungen, die andauernde Ausrichtung der Großen auf einen gemeinsamen königlichen Ansprechpartner und ihre Gewöhnung an gemeinsames Handeln in Konsens oder Rivalität, entschieden darüber, wo, in welchem Rahmen und mit welchen regionalen Schwerpunkten sich Herrschaftsbereiche festigen und langfristige Bedeutung gewinnen konnten. Unter dieser politischen Voraussetzung entstanden auf dem Boden des Frankenreichs neue Völker: „Die politische Organisation, die Verfassung, hat, wenn die Reichsbildung eine gewisse Dauerhaftigkeit erlangt, erst in einem zweiten Schritt ethnogenetische Konsequenzen“ (Joachim Ehlers) (s. a. Ethnogenese).
Ethnogenese Die Ethnogenese, die Entstehung der Stämme und Völker, ist in der frühmittelalterlichen Forschung vor allem im Hinblick auf die Stämme der Völkerwanderungszeit untersucht worden, weil man erkannt hat, dass Goten, Alamannen oder Franken nicht als unveränderliche Volksgruppen etwa von Skandinavien bis zum Mittelmeer gewandert sind. Die Gruppen der Völkerwanderungszeit waren vielmehr sehr flexibel, sie konnten immer wieder neue Gruppen aufnehmen, und erst im Kontakt mit dem Römischen Reich bildeten sich daraus offensichtlich genauer abgegrenzte Völker. Ähnliches gilt für die Völker der Deutschen und Franzosen: Die gab es im Jahr 800 jedenfalls noch nicht, sie entwickelten sich auf dem Boden des Frankenreichs erst, und es ist zu fragen, unter welchen Bedingungen und in welchem zeitlichen Rahmen diese Entwicklung stattfand.
Eine bemerkenswerte politische Kontinuität wies schon das Reich Ludwigs des Deutschen auf, in dem Graf Liudolf agierte: Ludwig war 59 Jahre König, davon 36 Jahre nach dem Tod seines Vaters; er war vor allem östlich des Rheins präsent und hatte seine Herrschaftsmittelpunkte im Rhein-Main-Gebiet und in Bayern, wo er mit Regensburg einen Residenzort weit im Osten des Reichs hatte. Aus dem Reich Ludwigs haben wir auch Zeugen für religiöse und kulturelle Anstrengungen, die nicht mehr auf das gesamte Frankenreich, sondern auf das Gebiet östlich des Rheins bezogen waren, das später zum Reich der Ottonen wurde: Im Kloster Fulda entstand eine volkssprachige Übersetzung der Evangelien-Harmonie des Tatian (2. Jh.), und Ludwig der Deutsche gab wohl den Auftrag zum Heliand, der in der dichterischen Form des Stabreimes das Leben Jesu als Leben eines Gefolgschaftsherrn darstellt. Das ist allerdings noch keine „deutsche“ Literatur: Die Evangelien-Harmonie ist ebenso in fränkischer Sprache verfasst wie der Liber Evangeliorum des Otfrid von Weißenburg (9. Jh.). Der zur Zeit Ludwigs des Deutschen entstandene Heliand ist nicht in fränkischer, sondern in altsächsischer Sprache verfasst; damit wollte man vielleicht ebenso wie mit einer Übersetzung der Genesis, des ersten Buches der Bibel, die christliche Heilsgeschichte für den gerade in das Frankenreich integrierten Adel Sachsens zugänglich machen.
Diese Bemühungen um die schriftliche Dignität der eigenen Sprache bzw. Sprachen und deren Nutzbarmachung für die religiöse und politische Integration bezeugen die Anfänge einer Identitätsbildung in einem neuen politischen Horizont. Es gibt allerdings keine strenge Kontinuität der deutschen Nationsbildung vom Reich Ludwigs „des Deutschen“ zum Reich der Ottonen, denn ostfränkische und sächsische Sprache bildeten noch keine neue, gemeinsame Sprache der „Deutschen“. Die ersten Ansätze einer volkssprachlichen Literatur wurden im 10. Jahrhundert nicht fortgebildet, Schriftsprache blieb vielmehr weiterhin Latein.
Um das Jahr 900 waren also durchaus schon Ansätze zu einer über das Politische hinausgehenden Auseinanderentwicklung von Ost- und Westreich vorhanden, aber ob sich daraus auch ethnische Identitäten entwickeln würden, das war von der weiteren politischen Entwicklung abhängig. Die politischen Zuordnungen blieben zunächst flexibel: Der Sohn Arnolfs von Kärnten, Zwentibold, hatte sich auch mit der Unterstützung seines liudolfingischen Schwiegersohns Otto († 912) nicht in Lothringen durchsetzen können, und nach der Erhebung Konrads I. wandten sich die dortigen Großen dem westfränkischen Karolinger Karl dem Einfältigen zu. Auch in anderen Regionen des ostfränkischen Reichs, für das Konrad in der Tradition seiner karolingischen Vorgänger Ludwig und Arnolf Autorität beanspruchte, regte sich Widerstand, auf den der König mit nicht immer erfolgreichen militärischen Aktionen reagierte. Auch der Versuch, auf einer Synode ostfränkischer Bischöfe in Hohenaltheim (916) die Unterstützung von Kirche und Papst zu mobilisieren und gegen die Angriffe, die sowohl der Herrscher als auch viele Bischöfe vonseiten regionaler Großer erfuhren, den sakralen Anspruch auf Unverletzlichkeit der durch Königs- bzw. Bischofssalbung ausgezeichneten Amtsträger zu setzen, scheiterte. Dahinter stand letztlich die Frage, wie sich der Herrschaftsanspruch eines Königs in karolingischer Tradition mit den in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts kontinuierlich gewachsenen Ansprüchen der Großen vermitteln ließ: ein Problem, das noch dadurch verschärft wurde, dass König Konrad aus der gleichen Schicht der Reichsaristokratie stammte wie konkurrierende Adelsherren vor allem im Süden des ostfränkischen Reichs.
Den Aufstieg dieser Adelsfamilien hat die ältere Forschung vor allem unter dem Stichwort des „jüngeren Stammesherzogtums“ betrachtet: Stammesherzöge hatten in merowingischer Zeit die obersten Führungspositionen bei Bayern, Alamannen, vielleicht auch bei Thüringern und im Elsass eingenommen, die von den Karolingern bis zum Ende des 8. Jahrhunderts beseitigt worden waren; man hat angenommen, dass aufgrund der karolingischen Schwäche am Ende des 9. Jahrhunderts gewissermaßen diese alten Stämme wieder hervorgetreten wären, dass sie sich politisch auf gentiler Basis reorganisiert hätten, und zwar in Form einer Erneuerung der Herzogtümer mit einem Stammesherzog als politischer Spitze. Gegen dieses Bild vom „jüngeren Stammesherzogtum“ spricht aber schon die Beobachtung, dass die neuen Herzöge, also Herren, die mit dem Titel des dux in den Quellen bezeichnet werden, in karolingischen Zusammenhängen, vor allem in Bindung an karolingische Strukturen, aufgestiegen waren, also nicht als Exponenten eines „Stammes“ der Bayern, Schwaben oder Sachsen, sondern in den Zusammenhängen karolingischer regna und regionaler Loyalitäten, die zwar teilweise mit ethnischen Gliederungen zusammenfallen konnten, aber nicht mit diesen deckungsgleich waren.
In diesem Horizont war es den Familien der Liutpoldinger und Hunfridinger gelungen, im Süden des ostfränkischen Reichs Führungspositionen oberhalb der übrigen adeligen Familien zu erringen, die mit dem Titel des Herzogs (dux) bezeichnet wurden. In diesem Prozess formierten sich politische Räume, die jeweils zum großen Teil den frühmittelalterlichen Siedlungsräumen der Bayern bzw. Alamannen und den daran orientierten karolingischen Strukturen entsprachen: Die neuen Herzogtümer Bayern und Schwaben. Auch wenn Vertreter der Konradiner in den Quellen gelegentlich als dux bezeichnet werden, entstand wohl entgegen der älteren Forschungsmeinung kein vergleichbares Herzogtum in Franken. Das hängt zum einen damit zusammen, dass die Konradiner zum Königtum aufstiegen; zum anderen verfolgten sie auch Interessen in Sachsen, agierten also in einem Raum, der über Franken hinauswies. Umgekehrt waren auch die Liudolfinger nicht nur auf Sachsen bezogen, sondern agierten wie ihre konradinischen Rivalen im Horizont des ehemaligen regnum Francorum et Saxonum Ludwigs des Jüngeren. Erst als die Liudolfinger zum Königtum aufgestiegen waren, fand die Entwicklung Sachsens zu einem eigenständigen politischen Raum ihren Abschluss. In diesem Rahmen erst entstand das Bedürfnis nach einem sächsischen Herzogtum.