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2.2.1 Auffälligkeiten des Denkens (z. B. Wahn, Desorganisation im formalen Denken)

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Dieses ICD-11 Kriterium entspricht den DSM-5 Kriterien A.1 (Wahn) und A.3 (desorganisierte Sprechweisen) wie in Tabelle 2.1 ( Tab. 2.1) aufgeführt.

Wenn im Folgenden Auffälligkeiten des Denkens beschrieben und charakterisiert werden sollen, so sollte zunächst Klarheit darüber geschaffen werden, was der Begriff Denken überhaupt bedeuten soll.

Auf den ersten Blick scheint jeder Mensch intuitiv zu wissen, was denken bedeutet. Betrachtet man die berühmte Skulptur von Rodin, der Denker ( Abb. 2.1), so scheint Denken ein Geisteszustand zu sein, bei dem eine Person in sich gekehrt ist, mit seiner Aufmerksamkeit nicht in die Welt gerichtet ist, sondern auf seine eigenen mentalen Prozesse. Ist Denken also ein Zustand der nach innen gekehrten Selbstreflexion?

Das würde bedeuten, dass ein Schachspieler, der sich strategische Zugkombinationen überlegt, um eine Partie zu gewinnen, nicht denkt, weil er mit seiner strategisch ausgerichteten mentalen Tätigkeit auf die Außenwelt gerichtet ist. So scheint der Begriff also zu eng gefasst zu sein, um das alltagssprachlich Gemeinte zu fassen.

Ein Blick in die psychopathologische Fachliteratur zeigt, dass der in der Alltagssprache gut verständliche Begriff bei genauer Analyse in seiner Abgrenzung rasch verschwimmt. So hält etwa Scharfetter in der 6. Auflage seiner Allgemeinen Psychopathologie fest:

»Denken – der Ausdruck bedeutet Vieles: Auffassen, Vernehmen, Vergegenwärtigung, Verknüpfen nach Sinn, Bedeutung, zeitlichen, kausalen, konditionalen Gesichtspunkten (Logik), nach emotional-affektiven Gehalten, sinngebendes, Bedeutungen verstehendes, auch ursächlich erklärendes Verbinden und handlungsvorbereitendes Überlegen, Entscheiden, Urteilen – kurz, das Ordnen der (materiellen und immateriellen) Gegebenheiten unser selbst und unserer Welt.« (Scharfetter 2010)

Diese Definition illustriert, dass der scheinbar so klare Begriff Denken nicht eine neurokognitive Teilleistung beschreibt, sondern eine Vielzahl, im Detail unterschiedlicher, kognitiver Leistungen.

Zieht man nun die Fachliteratur der Kognitionspsychologie zu Rate, so findet man häufig gar keine expliziten Verweise auf den Begriff Denken (Crawford et al. 1994; Eysenck und Keame 2010). Stattdessen wird der Begriff kognitive Funktionen oder kognitive Prozesse verwendet als Oberbegriff für Teilleistungen wie Wahrnehmung, Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Planen, Sprache, Motivation, Emotionen usw. Im deutschen Standardwerk der biologischen Psychologie wird der Begriff Denken synonym zum Begriff kognitive Prozesse verwendet. Diese werden folgendermaßen beschrieben:

»Unter kognitiven Funktionen verstehen wir alle bewussten und nicht bewussten Vorgänge, die bei der Verarbeitung von organismusexterner und -interner Information ablaufen, z. B. Entschlüsselung (Enkodierung), Vergleich mit gespeicherter Information, Verteilung der Information und sprachlich-begriffliche Äußerung. Als psychische Funktionen grenzen wir Denken, Gedächtnis und Wahrnehmung von den Trieben und Gefühlen als psychische Kräfte ab.« (Birbaumer und Schmidt 2010, S. 750)

Bei der Konkretisierung dessen, was mit Denken oder kognitiven Prozessen genau gemeint sein soll, wird in erster Linie die psychobiologische Organisation der Sprache und des Sprechens vorgestellt. Diese Definition zeigt aber darüber hinaus, dass der Begriff Denken auch in der modernen Kognitionspsychologie immer noch ein sehr weites, insgesamt wenig abgegrenztes und kaum klar operationalisiertes Konzept repräsentiert, in das viele unterschiedliche Funktionen höherer Geistestätigkeit einfließen wie Vorstellungsbildung, Fantasie, Zieleentwicklung, Strategiesuche, Handlungsplanung und vor allem Sprache. Klar abgegrenzt werden nur die Bereiche Wahrnehmung und Gedächtnis sowie Triebe und Emotionen, die als psychische Kräfte verstanden werden. Es zeigt sich also, dass der im ICD für die Definition der Schizophrenie zentrale Begriff der Denkstörung bei genauer Betrachtung auch in der wissenschaftlichen und ärztlichen Praxis nur wenig scharf abgegrenzt ist. Das öffnet einen großen Spielraum für Interpretationen, was im Einzelfall genau mit dem Begriff gemeint sein soll.

Der Begriff der Denkstörung repräsentiert ein wenig abgegrenztes Konzept, welches vor allem sprachnahe, höhere mentale Prozesse wie Vorstellungsgenerierung, Zieleformulierung, Planung, Sprache und Kommunikation beinhaltet.


Abb. 2.1: Den Denker von Rodin repräsentiert einen in sich gekehrten, selbstreflexiv anmutenden Geisteszustand

Wenn nun im Folgenden das inhaltlich Gemeinte von solchen Denkstörungen kurz veranschaulicht werden soll, so kann dazu auf die psychiatrische Standardliteratur zurückgegriffen werden (Ebert 2016; Berger 2015; Scharfetter 2010). Demnach werden der klassischen psychiatrischen Tradition folgend meist formale und inhaltliche Denkstörungen unterschieden (Ebert 2016; Berger 2015). In neueren Ansätzen wird diese Unterscheidung jedoch nicht weiterverfolgt und der Begriff der inhaltlichen Denkstörung fallen gelassen (Scharfetter 2010).

Vom Anfang und Ende der Schizophrenie

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