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Geleitwort von Heinz Haefner

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Dieses Buch beginnt mit einer wissenschaftlichen Analyse der altbekannten Krankheit Schizophrenie und womit es endet, verrät bereits der Titel. Diese Krankheit, die uns auf Wegen der Verständnisförderung und der Behandlungschancen nahegebracht wird, trägt seit gut einem Jahrhundert (1911) den Namen Schizophrenie.

Wahn, Halluzinationen und Denkstörungen, die wir heute als Kernsymptome zur Definition der Diagnose benutzen, waren, woran uns der Autor erinnert, schon im Altertum, etwa in den Tragödien Homers, bekannt. Die erste Destillation dieses Wissens zu einem eindeutigen Krankheitskonstrukt, der sog. Dementia praecox, hat der Schöpfer der modernen Psychiatrie, Emil Kraepelin, um die Wende zum 20. Jahrhundert vollzogen. Der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler hat diese ungeeignete Diagnose 1911 durch »Schizophrenie« ersetzt, weil er Ersterkrankungen an diesem Leiden sowohl im späteren Lebensalter als auch im Verlauf ohne Demenz beobachtete. Aber Bleulers Schizophrenie war nicht exakt dasselbe Leiden wie Kraepelins Dementia praecox. Die Grenze zwischen krank und gesund war weitergezogen, und die Konstruktion wich von Kraepelins Schöpfung ab. Aber auch diese Bezeichnung, auf Deutsch »Seelenspaltung«, ist keine gute Lösung, weil sie der Wirklichkeit nicht entspricht.

Die Kernsymptome der Krankheit Schizophrenie, Wahn und Halluzinationen, sind auch bei einigen anderen psychischen Störungen und selbst isoliert als Einzelsymptome bei Gesunden zu beobachten. Die Krankheiten, die diese Symptome allein oder in Verbindung mit Denkstörungen aufweisen, sind in allen Ländern, Kulturen und politischen Systemen mit annähernd gleicher Häufigkeit anzutreffen. Aber in bemerkenswerter Weise ist der Verlauf der Schizophrenie verschieden. Ist die Krankheit Schizophrenie deshalb ein Artefakt, das wegen seiner einigermaßen gemeinsamen Merkmale ein hohes Maß an Beständigkeit erreicht hat?

Die internationalen Klassifikationssysteme konnten sich trotz aller Bemühungen um eine korrekte Beschreibung von Symptomatik und Verlauf von der kategorialen Diagnose der kraepelinschen Tradition bis heute noch nicht definitiv trennen, ungeachtet einer außerordentlich großen Zahl von Befunden, die mit der Annahme einer Krankheitseinheit Schizophrenie nicht vereinbar sind. Mit dem wachsenden Wissen breitet sich diese Überzeugung jedoch zunehmend aus.

Die überzeugten Schizophreniereformer, und Tebartz van Elst zählt in vorderster Front dazu, benötigen plausible Erklärungen der im Komplex der sog. schizophrenen Symptomatik wirksamen ätiologischen und pathogenetischen Faktoren, etwa der neuralen Netzverbände, die mit psychischen Abläufen aus diesem Systemkomplex in beide Richtungen – sprich: Stimulation und Hemmung – verbunden sind. Nur gezielte Analysen können mit geeigneten Methoden und Forschungsdesigns in solche Komplexität eindringen. Nur ein Autor, der bereits mit geeigneten Methoden und Forschungsansätzen mehrschichtige Zusammenhänge geklärt hat, kann ein geeignetes Rüstzeug dazu anbieten.

Ludger Tebartz van Elst hat ein breites Spektrum der Forschung unter Bindung an klinische Erfahrung hinter sich. So hat er etwa die Autismusspektrumstörungen, einmal in Form des schizophrenieähnlichen Kanner’schen Autismus, der in früher Kindheit bevorzugt als Sprachstörung auftritt, zum anderen des in Jugend und später als vielfältige kommunikative und sprachliche Behinderung auftretenden Asperger-Autismus, bearbeitet. Er hat die psychopathologisch gegensätzlich erscheinenden bipolaren Symptommuster aufzugliedern und einer Erklärung zuzuführen versucht. Er analysierte auch das ADHS-Syndrom in der Vielfalt seiner Ausprägungen und Folgeerscheinungen. Schließlich untersuchte er die psychischen Störungsmuster bei Temporallappenepilepsie, besonders die forcierte Normalisierung, bei der nach therapeutischer Intervention anstelle eines Anfalls abnorme psychische Phänomene, teilweise in Gestalt psychotischer Symptome, auftreten.

Der erkenntnisphilosophische Ansatz Tebartz van Elsts bewahrt zwar die von Karl Jaspers von dem Philosophen Wilhelm Dilthey in die Psychopathologie übernommene Unterscheidung von verstehender Psychologie und erklärender Naturwissenschaft. Aber der Wissenschaftlichkeit wird auch die verstehende Psychologie nicht entkleidet. Die Kernbegriffe seiner eigenen Methode sind drei Definitionen von Norm: (1) Die nummerisch-psychologisch-statistischen Maße der Abweichung vom Mittel. Sie setzen dimensionale Strukturen der quantifizierten Phänomene voraus. (2) Die zweite Form von Normalität ist die technische. Sie lässt die Abweichung von realen Erwartungswerten kategorial definierter Merkmale erkennen. (3) Die dritte ist die soziale Norm, die krankhafte Phänomene hinsichtlich ihrer sozialen und moralischen Qualität definieren lässt.

Mit dieser Trilogie macht Tebartz van Elst drei Bereiche von Normabweichungen psychischer Fähigkeiten, Leistungen und krankhafter Phänomene ebenso dimensional wie auch kategorial analysierbar.

Wenn man der Argumentation Tebartz van Elsts folgt, die durch zahlreiche Beispiele und Abbildungen verständlich wird, dann entschwindet die klassische Krankheit Schizophrenie und an ihre Stelle tritt eine zunehmende Aufspaltung des Wissens. Das, was wir Schizophrenie nennen, umfasst dann ein paar Syndrome unterschiedlicher Ätiologie. Es handelt sich dabei wahrscheinlich um ein paar unterschiedliche Krankheitsprozesse, die unter bestimmen Umweltbedingungen ähnliche pathoplastische Syndrome zur Folge haben. Ansonsten sind wir wieder da, wo wir bei Beginn waren: Wir müssen uns von der traditionellen Diagnose verabschieden.

Dieses ausgezeichnete Buch kann man als Leitschnur denjenigen empfehlen, die den Weg des Verstehens und der Forschung an dem, was wir heute noch Schizophrenie nennen, einschlagen wollen. Schritte dazu sind in diesem avantgardistischen Buch in bemerkenswerter Klarheit herausgearbeitet.

Prof. Dr. h.c. mult. Heinz Häfner, im Juni 2017 zur 1. Auflage

Vom Anfang und Ende der Schizophrenie

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