Читать книгу Vom Anfang und Ende der Schizophrenie - Ludger Tebartz van Elst - Страница 20

Kasuistik 2: Wahn und Wirklichkeit

Оглавление

Ein 20-jähriger Medizinstudent berichtet, er könne auf der Straße den Leuten nicht in die Augen schauen. Zum einen fühle sich dies für ihn so aggressiv an. Wenn er anderen in die Augen schaue, habe er Angst, sie könnten ihm etwas antun. Zum anderen liege es aber vor allem daran, dass sobald Blickkontakt hergestellt sei, die anderen sofort wüssten, was er gerade denke.

Neulich habe er z. B. in der Straßenbahn gesessen. Ihm schräg gegenüber habe ein Mann mit Bart und roter Sonnenbrille gesessen. Das habe er seltsam gefunden. Die Brille sei nur leicht getönt gewesen. Auch habe der Mann nach Cannabis und Alkohol gerochen und sei sehr unruhig gewesen und auf seinem Sitz hin und her gerutscht. Er habe sich noch überlegt, was das wohl für ein seltsamer Vogel sei. In diesem Augenblick hätten sich ihre Blicke getroffen. Ihm sei sofort klar geworden, dass der andere seine Gedanken mitbekommen habe. Mit dem Blick hätten sich die Gedanken geändert. Das habe er an der Art ablesen können, wie der andere geschaut habe. Er habe schnell weggeblickt, damit der andere nicht noch mehr seiner Gedanken mitbekommen könne und am Ende noch wütend werde. An der nächsten Haltestelle sei er dann rasch ausgestiegen, obwohl er noch nicht an seinem Ziel angekommen gewesen sei. So etwas passiere ihm immer wieder, vor allem, wenn er müde und deprimiert sei. Einmal sei es auch passiert, als er eine hübsche junge Frau angeschaut und sich ihre Blicke getroffen habe. In dem Moment habe er nichts mehr denken können. Ihm seien alle Gedanken entzogen worden. Er habe auch nicht wegschauen können, weil er wie gelähmt gewesen sei. Dann sei die Frau plötzlich aufgestanden und habe sich weggesetzt. Solche Erlebnisse seien schon seltsam.

Das Subjekt dieses Erlebens des eigenen geistigen Funktionierens wird dabei »Ich« oder auch »Selbst« genannt. Im Falle des Medizinstudenten ist es also der 20-jährige junge Mann bzw. sein Körper. Weiter kann beschreibend festgehalten werden, dass es sich bei den Erfahrungen, um die es hier geht, um bewusste Erfahrungen handelt. Die betroffenen Menschen können über diese Erfahrungen berichten, weil sie sie bewusst erleben und erinnern können (Tebartz van Elst 2015, S. 103 ff.).

Der deutschen psychopathologischen Tradition folgend wird für die Bezeichnung des Subjekts dieses Erlebens dabei der Begriff des »Ich« favorisiert. Auffälligkeiten im Erleben der Integrität des eigenen Wahrnehmens, Fühlens und Denkens werden dann als »Ich-Störung« beschrieben. In der angelsächsischen Tradition wurde dieser Begriff anders als das Schizophrenie-Konzept nicht aufgegriffen. Das Gemeinte der Ich-Störungen wird dabei unter den Kategorien des Wahns oder wie nun im ICD-11 und der Überschrift der Auffälligkeit des Selbst-Erlebens subsummiert. Der folgende Kasten ( Kasten 2.1) stellt einen Überblick über die verschiedenen Konzeptionen der Begriffe »Selbst« und »Ich« vor.

Kasten 2.1: Zur Begriffsdefinition der Konzepte »Selbst« und »Ich«.

Vom Anfang und Ende der Schizophrenie

Подняться наверх