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4.

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„Danke, dass du mich da mit reingezogen hast!“, keifte Leon schnippisch. Sie hatten Grinders Büro wieder verlassen und saßen mittlerweile in ihrem eigenen, das war wesentlich weniger schön anzusehen und vor allem beträchtlich kleiner. Sie teilten sich einen Raum ohne Tageslicht, der gerade einmal genug Platz für zwei Schreibtische, ein White Board und eine bescheidene Stoffcouch bot.

Ryan war irritiert: „Warum ich?“

„Na ja, früher wär’ ihm nie eingefallen, dass er einen von uns nach draußen schickt. Aber seitdem wir dich als Ex-Rambo dabei haben, is’ er da wohl etwas lockerer.“

Ryan lachte: „Du hast doch immer gejammert, dass du mal raus wolltest. Jetzt hast du endlich die Chance dazu. Außerdem bin ich da und pass auf dich auf! Du musst ja nicht allein raus zum bösen Mann!“

„Na ja, wenigstens Amsterdam. Is’ glaub ich ´ne schöne Stadt“, sagte Leon und zuckte mit den Schultern. Er kramte eine Packung Zigaretten hervor und begann, damit herumzuspielen.

„Was… was war das eigentlich vorher?“, fragte er und sah zu Ryan auf.

„Was meinst du?“

„Du weißt, was ich meine. Grinder hat ziemlich lange rumgedruckst. Das macht der doch sonst nicht. Der Grinder, den ich kenne, der hätte uns nicht extra rein bestellt. Das wär ´ne Mail gewesen, mit nix als Betreff: Heute, 20 Uhr, Flughafen und fertig…“

Ryan wusste natürlich worauf Leon hinauswollte. Er zierte sich nur etwas damit herauszurücken. Obwohl er und Leon mittlerweile gut befreundet waren, fiel es ihm immer noch schwer, über seine Vergangenheit zu sprechen.

„Ich glaube, er wollte wissen, ob es für mich okay ist…“, seufzte er und rieb sich die Augen. „…ich hab dir das nie erzählt, aber es war ja damals nicht ganz klar, ob ich hier überhaupt arbeiten darf… oder kann.“

„Meinst du wegen deiner Posttraumatischen Belastungsstörung?“, fragte Leon.

„Ja, deswegen. Ich hab davor schon einmal mit Grinder darüber gesprochen. Damals hat er gemeint, es sei zu früh für mich, wieder an die Arbeit zu gehen. Ein halbes Jahr später hat er dann irgendwie seine Meinung geändert. Ich hab dann aber auch eine Bedingung gestellt. Der hat er zugestimmt.“

„Was für eine Bedingung?“

„Dass ich nicht in den Außeneinsatz muss. Es wäre damals auch undenkbar gewesen. Ich konnte mir das nur erlauben, weil Grinder mich kannte und ich ihn. Sonst hätte das gar nicht funktioniert. Ich wäre gar nicht erst in den Job reingekommen.“

„Hm…“ Leon konzentrierte sich wieder auf seine Zigarettenschachtel. Er klappte sie zweimal auf und zu.

„Und jetzt kannst du wieder in den Außeneinsatz? Du fühlst dich wieder fit?“.

Ryan wusste, dass er diese Frage stellen würde. Er hatte sie sich selbst gestellt, sehr oft sogar. Konnte er wieder in den Einsatz? Er hatte sich schon einmal sicher gefühlt. Damals kamen Depressionen und Panikattacken mit Verstärkung zurück und kosteten ihm fast das Leben. Andererseits war er damals auch alleine damit gewesen. Jetzt, das wusste Ryan, hatte er einen Menschen, mit dem er seine Gefühle teilen konnte, die für ihn da sein würde, wenn er am Abgrund stünde. Die wusste, wer und was er war.

„Ja, kann ich…“, sagte Ryan, etwas überzeugter als er es geplant hatte. Er schluckte und fügte hinzu: „Zumindest für so einen Außeneinsatz. Es ist Amsterdam, es ist kein Kriegsgebiet, keine verdeckte Ermittlung, also alles gut!“

Leon lächelte ihn an: „Tipptopp. Und falls der böse Mann dann wirklich kommt, bin ich ja immer noch da, um dir dein’ Arsch zu retten!“

„Selbst bei einer bösen Frau hättest du Probleme!“

„Leck mich!“, zischte Leon und nahm eine Zigarette aus der Schachtel heraus.

„Warum macht er das eigentlich?“, fragte Ryan und kratzte sich am Hinterkopf.

„Was?“

„Er hat zwar ein bisschen drum herum geredet, aber es klingt so, als würden wir allein handeln. Unabhängig vom restlichen BND…“

„Hm… ich kenne ihn nicht so gut wie du, aber ich glaub, er hat immer noch Probleme mit der neuen Struktur. Wir sind alles, was vom MAD übrig ist. Man kennt ihn ja schon noch, aber vergisst ihn von Jahr zu Jahr mehr. Kann mir gut vorstellen, dass die weiter oben nichts von unserem Engagement in der Sache mitbekommen, weil er ihnen halt auch nichts sagt. Die lassen ihn ja im Kleinen gerne allein handeln. So viel Einfluss hat er dann doch noch.“

Probleme mit der neuen Struktur. Das war tatsächlich ein wunder Punkt Grinders. Vor Jahren hatte man den militärischen Geheimdienst MAD in den deutschen Geheimdienst BND integriert. Anfänglich sollte der MAD noch eigenständig bleiben, nicht zuletzt dank Grinders Leitungstätigkeit und sein hohes Ansehen, doch die Zeiten änderten sich, vor allem in der Informationsbranche. Und genauso wie das Militär mehr und mehr an Wichtigkeit verloren hatte, so verlor der MAD an Relevanz innerhalb des Geheimdienstes. Das ging soweit, dass Koblenz und das Gebäude, in dem sie sich gerade befanden, der letzte Standort war, der noch vom alten MAD herrührte und sich unter dem Befehl Grinders befand. Der Mann, der für Ryan wie ein Vater gewesen war, gehörte einer aussterbenden Art an – und das wusste er auch. Insofern war die Erklärung durchaus plausibel.

„Aber eines versteh’ ich noch nicht ganz“, sagte Leon und unterbrach Ryans Gedankengang.

„Was bewegt den kleinen Mohammed dazu, aus dem Nichts mehrere Leute umzubringen?“

„Matthew“, warf Ryan ein.

„Was?“

„Er hieß Matthew.“

„Mein ich ja. Also erstens das und zweitens: Wie konnte dieser Glatze-Typ so einfach verschwinden?“

Genau das war die Frage, die sich Ryan stellte, seitdem sie Grinders Büro verlassen hatten. Immerhin war es London. London! Die Stadt der Kamera-Überwachung, die Stadt, in der man keinen Schritt tun konnte, ohne dass es Big Brother mitbekam. Wie also hatte es dieser Mann geschafft, so mir nichts dir nichts zu entkommen? Die schönere Antwort wäre gewesen: Er war einfach ein verdammtes Genie. Ein Ex-Soldat oder so etwas in der Art, mit einer hervorragenden Ausbildung. Die deutlich unschönere Antwort war eine andere: Er hatte Hilfe. Vielleicht sogar von Big Brother höchstpersönlich.

Ein leises Klopfen riss ihn aus seinen Verschwörungstheorien. Am Eingang zu ihrem Büro stand Laura: „Hey... darf ich fragen, woran wir nächste Woche arbeiten werden?“

Sie war einer der neugierigsten Menschen, die Ryan je untergekommen waren.

„Na ja…“, antwortete Ryan, „Du wirst dir auf jeden Fall nicht frei nehmen können.“

„Ryan und ich werden einige Zeit weg sein. Du wirst also die Abteilung leiten“, sagte Leon grinsend. Ryan fiel aus allen Wolken. Er drehte seinen Kopf zu Leon hinüber und formte mit den Lippen ein stummes, aber deutlich erkennbares: „SPINNST DU?“

Leon ignorierte ihn komplett. Laura lief rot an, bedankte sich und sagte: „Ich werde euch würdig vertreten!“

Er... war einfach nur ein verknallter Vollidiot, schoss es Ryan durch den Kopf.

„Ja, ähm…“, unterbrach er das peinlich Schweigen, das nach Lauras Kampfansage eingetreten war.

„Lass uns doch noch einmal kurz alleine. Wir lassen dir dann alles Weitere zukommen. Es gibt viel zu tun!“

Mit einem freudestrahlenden „Alles klar!“ wirbelte sie herum und lief federnden Schrittes davon.

Ryan starrte Leon mit fragendem Blick an. Der schien erst jetzt zu realisieren, was er da gerade getan hatte. Ein paar Sekunden herrschte betretenes Schweigen. Dann wurde es von Leon durchbrochen.

„...Ups.“

Beide fingen schallend an zu lachen.

„Hör mal, wenn du mit ihr schlafen willst, dann mach sie doch einfach zu deiner Sekretärin, so wie das alle machen!“, sagte Ryan, während er sich die Tränen aus den Augen wischte.

„Sehr witzig, nicht jeder lebt in ´ner perfekten Welt mit einer Supermodel-Biologin. Dass sowas überhaupt existiert is’ ´ne Frechheit!“

Bei dem Wort ‚Supermodel-Biologin‘ zuckte Ryan etwas in sich zusammen. Er musste Mia immer noch beichten, dass er zum ersten Mal seit einer langen Zeit wieder auf einen Einsatz außerhalb dieser vier Wände gehen würde. Mias Sorge war dabei nicht unbegründet und er konnte es ihr nicht verübeln, im Gegenteil.

„Hast Schiss es ihr zu sagen, was?“, stichelte Leon, als hätte er Ryans Gedanken gehört.

„Leck mich!“, keifte Ryan zurück, aber Leon hatte leider recht, denn die Situation, in der er steckte, bereitete ihm gerade ernstzunehmendes Unbehagen. Sie würde alles andere als begeistert sein und das zu Recht. Sie hatte ihm immer zugehört, war für ihn da gewesen, wenn es ihn nachts schweißgebadet und schreiend aus dem Schlaf riss, oder er wegen dem lauten Knattern eines uralten Mofas zusammen zuckte, die Fäuste ballte und an sich halten musste, um nicht schreiend zu Boden zu gehen. Sie hatte auch im Krankenhaus über ihn gewacht, als es damals ganz besonders schlimm wurde. Mia war der Grund, warum er überhaupt noch am Leben war. Sie hatte ihm im wahrsten Sinne des Wortes das Leben gerettet.

„Fahr zu ihr, ich schick dir das wichtige Zeug auf dein Handy, um den Rest kümmere ich mich. Ich schätze, dass wir nicht viel mehr als vier Stunden haben“, sagte Leon, jetzt mit ernster, aber freundschaftlicher Miene.

„Merci!“, sagte Ryan und versuchte es so dankbar wie möglich klingen zu lassen. Er zog sich seine Jacke an und stand auf. Kurz vor der Tür drehte er sich noch einmal zu Leon um. Seine Miene verfinsterte sich: „Ah und noch was, während ich weg bin... Versuch, Laura nicht zu vögeln!“

Ryan konnte sich gerade noch rechtzeitig durch die Tür stehlen, die Zigarettenschachtel verfehlte ihn nur um Haaresbreite. Grinsend durchschritt er ihre Abteilung und trat hinaus auf den lichtdurchfluteten Korridor Richtung Aufzug. Grinder hatte damals darauf bestanden, dass ihre Räumlichkeiten nicht von außen einsehbar waren, ergo gab es auch keine Fenster, kein Sonnenlicht, keine Transparenz. Alte Schule durch und durch.

Am Ende des Korridors nahm er den Aufzug hinunter in die Eingangshalle. Dort war ein kleiner Empfangsbereich mit einer Art Rezeption. Nichts ließ hier vermuten, dass es sich um eine Immobilie des BND handelte. Erst wenn man durch die Tür nach draußen ging, wurde es deutlich. Es standen immer mindestens zwei Soldaten links und rechts am Hauptportal. Beide salutierten, als Ryan sie passierte. Er hatte lange gebraucht es sich abzugewöhnen, den Gruß zu erwidern, war ihm die Geste doch in Fleisch und Blut übergegangen. Über Jahre hinweg antrainiert, so wie die unzähligen Fähigkeiten, auf die Ryan mal mehr, mal weniger stolz war.

Er ging runter Richtung Mosel-Ufer, wo sie sich einen großen öffentlichen Parkplatz mit der Universität teilten, die in Laufweite hundert Meter entfernt lag, genauso wie ein altes Militär-Trainingsgelände und die Bundesstraße. In der Regel lief er zur Arbeit, wenn er den Weg über den Campus nahm, dann brauchte er gerade einmal fünfzehn Minuten zu Fuß. Heute war er mit Mias Auto her gefahren. Er wäre sonst noch später angekommen als ohnehin schon.

Ryan ging zu dem dunkelblauen VW Golf ganz am Ende des fußballfeldgroßen Sandplatzes, auf dem hunderte Autos in Reih und Glied nebeneinander parkierten. Es war ein schöner Tag, ein sonniger Tag. Ein paar Meter weiter hörte er Gelächter, Musik und Gläserklirren. Der Stadtstrand hatte geöffnet. Ein kleiner Abschnitt am Ufer der Mosel, aufgeschüttet mit Sand und umstellt von Bauwagen. Studenten hatten die Freiluftbar gegründet, die im Sommer Zuflucht für die Jungen und jung Gebliebenen bot. Man konnte trinken, Shisha rauchen, die Sonne genießen und sich so ein Stück Südsee-Urlaub in den Alltag holen.

„Ryan, warte mal kurz!“ Der Mann kam von hinten angerannt und fuchtelte wild mit den Händen. Sein schwarzes T-Shirt mit dem Aufdruck einer Metalband flatterte dabei im Wind.

„Martin, schiebst du wieder Überstunden?“ Ryan lachte ihn an. Martin war einer der Menschen, in deren Gegenwart man immer grinsen musste, was zum großen Teil an seinem Äußeren lag. Er war einfach eine witzige Gestalt und das ausschließlich im positiven Sinne. Sehr dünn und lang. Es war wohl seinem schlaksigen Körperbau geschuldet, dass er meist Kleidung trug, die ihm mindestens eine Nummer zu groß war. Er hatte schwarzes, dünnes Haar und trug eine eckige Brille, die auf seiner etwas zu großen Nase thronte. Wenn Martin lachte, steckte das alle an. Es war ein lautes Lachen, sehr hoch, wie das eines Jungen im Stimmbruch. Vor allem aber: Es war immer aufrichtig.

„Muss ich ja, alleine findet ihr in Amsterdam nicht mal aus’m Bahnhof raus!“ Frotzelte er.

„Was gibt’s?“, fragte Ryan.

„Hättest du kurz eine Minute für mich, dauert nicht lange. Dann hast du auch noch ein bisschen Zeit, bevor Mia dich killt.“ Er griff sich etwas verlegen an den Hinterkopf.

„Leon?“

„Yes, Leon…“

„Er ist einfach ein Riesen-Arschloch!“, seufzte Ryan und schüttelte grinsend den Kopf. Dann zuckte er mit den Achseln. „Aber er hat Recht… gehen wir ein Stück.“

Er nickte in Richtung des kleinen Gehweges, der direkt am Moselufer entlangführte. Martin war ihr Spezialist für IT-Technologien. Dabei hatte er gewissermaßen ein Hobby zum Beruf gemacht, ihn faszinierte alles, was einen Prozessor hatte. Und Geschichten. Martin liebte Geschichten. Er war leidenschaftlicher Gamer und so wie Ryan das mitbekommen hatte ein ziemlich guter noch dazu. Obwohl er selbst nicht so viel mit Computerspielen anfangen konnte, hing er gebannt an seinen Lippen, wenn er davon erzählte, wie sie im Team und über das Internet kommunizierend mit Spielern aus aller Herrenländer antraten. Irgendwann hatte Martin dann sehr vorsichtig gefragt, wie Ryan die Realität auf dem Schlachtfeld erlebt hatte. Er kannte es nur aus Simulationen wie dem Online Shooter PUBG.

„Du musst mir wirklich nichts erzählen, nur falls du willst. No pressure!“, hatte er dann schnell nachgeschoben. Sein Kopf war damals so feuerrot angelaufen, dass Ryan befürchtete, er würde gleich die zerplatzten Überreste von Martin vom Boden auflesen müssen. Vielleicht lag es daran, dass er die Überwindung erkannte, die Martin das Fragen gekostet hatte, oder vielleicht daran, dass er bei ihm nicht das Gefühl bekam, bemitleidet zu werden und keine dieser beileidsgeschwängerten Blicke empfing. Oder vielleicht lag es daran, dass er einfach Martin war, der Mann mit dem lauten Mädchenlachen und den zu großen T-Shirts.

So oder so, Ryan hatte ihm damals mehr erzählt, als so manchem Psychologen aus seiner Vergangenheit und die ganze Zeit über sah Martin ihn mit großen Augen an, wie ein Enkel seinen Großvater, wenn der ihm ‚Opa-Geschichten‘ erzählt. Von den Flashbacks, den ständigen Bildern im Kopf, die ohne Vorwarnung auftauchte, nur um dann wieder zu verschwinden. Er erzählte ihm, wie er unter diesen Bildern gelitten hatte, dass sie von überall herkamen, Irak, Afghanistan, vor allem Syrien. Sogar von dem Waisenhaus in dem er aufwuchs, nachdem er seiner Mutter entrissen worden war, weil die ihn hatte halb verhungern lassen. Dass ihm auch schöne Erinnerungen an seine Zeit geblieben waren, an den Garten vor dem Waisenhaus, an seine Kameraden beim Militär und an die vielen exotischen Länder dieser Welt, die er bereist hatte.

Doch mit dem Guten stets verbunden war das Grauen. Zum Beispiel als er Luca verloren hatte. Wenigstens musste er ihn damals nicht in den Armen halten und zusehen, wie er röchelnd und spuckend verblutete. Bei Luca ging alles ganz schnell. Sie waren bei einem Nahrungsmitteltransport ins Kreuzfeuer geraten. Luca stieg als Erstes aus dem Militärfahrzeug aus, das man als ‚Humvee‘ bezeichnete und wurde von panzerbrechender Munition erwischt. Die meisten wussten nicht, was panzerbrechende Munition macht, wenn sie nicht auf eiskalten Stahl, sondern auf warmes Fleisch trifft. Sie durchschlägt nicht, sie durchbohrt nicht. Sie pulverisiert.

Lucas gesamter linker Torso regnete damals auf Ryan nieder, wie Sprühnebel an einem schwülen Tag im April.

Er erklärte Martin, dass er mittlerweile eine gewisse Distanz zu diesen Eindrücken aufbauen konnte und dass es ihm damit ein bisschen ging wie einem Künstler mit dem Lampenfieber. Es würde nie weggehen und war da, jedes Mal, wenn er die Bühne betrat, aber man gewöhnte sich an das Gefühl, an die Reaktion, die der Körper zeigte. Irgendwann war es eben nur noch Lampenfieber, irgendwann war das Gefühl langweilig. Hunderte und aberhunderte Male empfunden, hatte es nicht mehr viel Einfluss auf den Menschen. Damals zerstörten die Bilder sein Leben und nagten an ihm wie ein aggressiver Krebs, der seinen Wirt von innen heraus zerfrisst. Heute konnten sie ihm nichts mehr anhaben.

Nur die eine Sache ließ er aus, das, was nur Mia über ihn wusste, den Ursprung seines Leids und den Namen, den sie ihm gegeben hatten, als er damals den Seinen mehr und mehr verlor. Er wollte und konnte nicht darüber reden, auch mit Martin nicht. Nicht über die schwarze Gestalt, die ab und an des Nachts durch seine Träume huschte, übermächtig, unbesiegbar und Menschen in den Tod reissend. Generell hatte er es in sich eingekerkert, den Schlüssel weggeworfen und seit langer Zeit nicht mehr zurückgesehen, denn auf diese Weise funktionierte es am besten.

Stattdessen erzählte er ihm, dass er so Mia kennen gelernt hatte. Sie forschte als Biologin im Auftrag des Militärs an einem Mittel gegen die Posttraumatische Belastungsstörung. Sie war Teil eines Teams, das aus Biologen, Chemikern, Ärzten und Computerspezialisten bestand. Ironischerweise hatte er ihr Mittel nie eingenommen. Das, was ihn geheilt hat, war sie.

Martin hatte sich das alles angehört, nichts gesagt, eben nur zugehört. Als Ryan fertig war, schwiegen sie beide eine Weile, bis Martin die Worte sagte, die er nie vergessen würde. Etwas unbeholfen und doch von Herzen überzeugt: „Ich bin froh, dass wir Freunde sind!“

„Also, was kann ich Gutes für dich tun?“, fragte Ryan, während sie am Stadtstrand vorbei flussaufwärts schlenderten.

„Ich game ja ziemlich oft.“

„Sag bloß“, schnaubte Ryan.

„Ja, ich game sehr oft. In letzter Zeit sehr viel PUBG. Du weißt schon dieses…“

„Ballerspiel!“

„Ego-Shooter, aber ja… Ballerspiel.“ Bei dem Wort runzelte Martin die Stirn, fuhr dann aber fort.

„Auf jeden Fall wird den Gamern oft vorgeworfen, dass sie ihr eigenes Gewaltpotenzial durch diese Beschäftigung steigern und die Sensibilisierung verlieren, was einfach Bullshit ist!“ Martin gestikulierte wild um sich.

„Ich will zeigen, dass wir uns auch kritisch mit dem Thema auseinandersetzen. Ich habe diesen Podcast, den ich einmal im Monat mache. Normalerweise unterhalte ich mich mit anderen Gamern über neue Spiele und allen möglichen Shit, aber ich würde gerne mal was Ernstes machen. Die Realität zeigen, die mit dem Spiel nichts zu tun hat und klarmachen, dass das auch gut so ist. Also das ganze wäre nicht Live, ich schneide den Podcast danach. Ich kann dann auch wirklich Chunks rausnehmen, egal was, du müsstest es nur sagen. Und ich würde auch nicht so in die Tiefe gehen, es geht nur insgesamt um ein bisschen… ja, also das Militär und eben auch, du weißt schon, dass das scheiße ist. Und deswegen wollte ich dich fragen, ob…“

„Ich vertrau dir, Martin“, unterbrach ihn Ryan, weil er wie damals befürchtete, Martins Kopf würde vor lauter Blut gleich platzen, „Ich bin gerne bei deinem Podcast dabei.“

Martin war die Erleichterung anzusehen. Er musste sich lange überlegt haben, wie er Ryan die Idee präsentieren konnte.

„Nice!!! Das wird Hammer!“, sagte Martin, etwas zu euphorisch.

„Im Gegenzug gehst du mit mir dann mal ins Gym!“, lachte Ryan.

„Ich glaube nicht, dass du das erleben willst!“, erwiderte Martin und strich sich dabei mit dem Zeigefinger dreimal bestimmt über die Kehle.

Sie gingen noch ein Stück weiter, Martin erzählte etwas von einem neuen Freund, den er in einem Online Chat kennen gelernt hatte und der ihn über die Maßen faszinierte, weil er so breit gefächertes Wissen besaß. Dann fragte er nach Mia. Ryan erzählte ihm alles Neue und auch, dass er sich nicht sicher war, wie sie gleich reagieren würde. Mit einem: „Du machst das schon!“, verabschiedete sich Martin am Parkplatz von ihm.

Ryan ließ noch einmal seinen Blick schweifen, ehe er ins Auto stieg. Erst als er den Motor zündete, konnte er das Treiben am Stadtstrand nicht mehr hören.

Augenreisser

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