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15.

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Ryan war umgeben von schweigendem, weißem Plastik. Zwei Handbreit trennten ihn von den summenden Wänden des Kernspintomographen. Er solle sich nicht bewegen hieß es und das kam ihm gerade recht. Er war genug damit beschäftigt, das zu verarbeiten, was er gerade gesehen hatte. War es eine Halluzination gewesen, ein Produkt seines Gehirns? Es musste so sein, eine andere Erklärung gab es nicht. Wusste gar nicht, dass du so kreativ bist! Er versuchte, seine Mundwinkel nach oben zu bewegen, scheiterte aber daran.

Die Bilder kreisten immer noch in seinem Kopf. Da war Edgar Maas, in Ekstase auf der kalten Leiche einer jungen Frau. Oder war es Ryan selbst, der auf ihr lag, schwitzend und stöhnend? Er konnte alles sehen, musste alles sehen, konnte sich nicht davor verschließen. Wie er sich über dieses arme Mädchen hermachte und dann den Anruf bekam. Edgar war wütend. Woher wusste er, dass er wütend war? Es musste Einbildung gewesen sein, es ging gar nicht anders! Selbst wenn sein Gehirn wegen des Schlags für kurze Zeit in einem Hochleistungszustand gewesen wäre und ihm eine Art Superhelden-Cold-Reading ermöglicht hätte, wäre er doch nicht in der Lage gewesen zu erahnen, was Edgar fühlte? Nein, das war unmöglich!

Die Überwältigung wich langsam einem nicht weniger unangenehmen Gefühl, nämlich Scham. Ryan schämte sich, dass diese Gedanken in ihm auftauchten und er sie mit einem Wildfremden verknüpfte, der einfach nur neben ihm seine verspätete Mittagspause verbracht hatte. Er kannte die meisten Werke aus der Tiefenpsychologie, er wusste, was solche verborgenen Bilder und Fantasien bedeuten konnten. Hatte es vielleicht doch etwas mit diesem Edgar Maas zu tun? Witzig, du kennst doch nicht mal seinen echten Namen, dachte Ryan und versuchte sich zum Schmunzeln zu bringen. Edgar Maas, so hat ihn dein Gehirn genannt!

In diesem Moment fuhr ihn die elektrische Trage aus der großen, kreisrunden Röhre hinaus. Er setzte sich auf, verließ den Raum und versuchte dabei, so viele Schuldgefühle und Bilder der letzten Stunde wie möglich zurückzulassen. Er sollte zurück in sein Krankenzimmer, legte sich dort auf das Bett und versuchte nicht weiter darüber nachzudenken. Viel Zeit wäre ihm auch nicht geblieben, fünf Minuten später kamen ein Doktor und Leon herein.

„Was haben Sie gemacht, als es passiert ist?“, der Arzt blickte Ryan über den silbernen Rahmen seiner Halbmondbrille hinweg an. Leon antwortete für ihn.

„Wir waren in der Cafeteria“ Schuldbewusst hakte er nach: „Aber er war da keinem Stress ausgesetzt. Wir sind gemütlich hingelaufen, keine Hektik, kein…“ Der Arzt unterbrach ihn.

„Nun, das erklärt es aber trotzdem! Ich vermute, sie haben gut gegessen vorhin? Zum ersten Mal seit dem Unfall?“

Ryan nickte ihm zu.

„Ja, ich hatte ziemlich Hunger…“ Der Arzt lächelte ihn an.

„Sehen sie, wenn sie nach so einer Abstinenz und einem Eingriff dieser Art wieder etwas Festes zu sich nehmen und sich, nun ja, sagen wir mal, gut den Bauch voll schlagen, dann führt das zu einer temporären Überproduktion von Insulin. Das erklärt ihren kurzen Schwächeanfall. Ihr Scan ist ansonsten clean. Auch die anderen Tests haben nichts ergeben. Ihr Gehirn ist absolut gesund und Sie sind in der Theorie wieder ganz normal belastbar. Sie müssen sich also keine Sorgen machen, aber…“, er begann sich kreisförmig über den Bauch zu streichen, „…gehen Sie’s etwas langsamer an!“ Mit einem Augenzwinkern verabschiedete er sich und verließ den Raum.

„Also das nächste Mal, wenn du vorhast, dich ins Koma zu fressen“, maulte Leon, „dann mach das bitte ohne mich.“ Er lachte laut auf und schüttelte dabei ungläubig den Kopf.

Insulinschock… Ob das auch erklärte, warum er einen Typen auf einer Leiche gesehen hatte? Warum es ihn in einen Sog aus Eindrücken, Empfindungen und Erinnerungen hineingezogen hatte, aus dem er mit eigener Kraft nicht mehr herauskam, der ihn gefangen hielt, wie die Gemäuer eines Kerkers? Vielleicht war es wirklich nur eine Spielerei seines Gehirns gewesen, ein kleiner Jux, der durch eine Mischung aus Stress und Insulinüberproduktion leicht erklärbar war. Eine einmalige Sache, etwas, das ihm nie wieder passieren würde. Aber warum dann ausgerechnet so, warum nicht einfach Feenstaub und Einhörner und Gummibären, warum dieser Edgar Maas auf einer armen, toten, jungen Frau?

Ryans Handy begann zu vibrieren. Er nahm es von der kleinen Kommode neben dem Bett und blickte auf das Display. Über den roten und grünen Telefonsymbolen thronte Mias Bild. Sein Herz schlug einen kurzen Purzelbaum, bevor es unsanft zu Fall kam. Er freute sich wahnsinnig ihr Bild zu sehen, wollte unbedingt ihre Stimme hören, aber was würde er ihr sagen? Sollte er aufrichtig zu ihr sein? Riskieren, dass sie krank vor Sorge in den nächsten Flieger nach Amsterdam stieg? Oder sollte er lügen, obwohl Mia Ehrlichkeit sehr wichtig war? Er hatte ihr einmal versprechen müssen, sie niemals anzulügen. Würde er dieses Versprechen jetzt brechen? Er verdrehte die Augen und zeigte Leon das Display. Der prustete reflexartig los.

„Schwierig. Da wünsch ich dir viel Spaß!“

Ryan schälte sich aus dem Bett und bewegte sich Richtung Tür.

„Soll ich nicht lieber mitkommen?“ Leon war wohl immer noch besorgt, dass Ryan erneut in sich zusammenklappen könnte.

„Nein, am Ende sterben wir noch beide“, erwiderte Ryan und fuchtelte dabei mit dem Handy in seiner Hand. Er öffnete die Tür und nahm den Anruf noch im Hinausgehen entgegen.

Augenreisser

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