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14.

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Es hatte dort angefangen. Ryan würde es niemals vergessen. Sie hatten lange in der Krankenhaus Cafeteria gesessen, hatten über das Essen und die örtlichen Behörden gelästert, gelacht und sich gegenseitig Beleidigungen zugeworfen, die keiner von beiden ernst meinte. Dann war Leon nach draußen gegangen, um eine Zigarette zu rauchen und kurz zu telefonieren. Ryan blieb allein an ihrem Tisch sitzen. An den Wänden und dem Mobiliar klebte der typische Kantinengeruch nach Spülwasser, verkochten Kartoffeln und Fett. Der Essensraum war hell und freundlich, die Tische präsentierten sich in sterilem Weiß. Sie wurden durch kleine, hölzerne Séparée und Sitzbänke voneinander getrennt. Es war halb vier, die Cafeteria relativ leer und die Mittagsangebote schon nicht mehr verfügbar. Ryan dachte über Grinder nach. Darüber, dass er extra angereist war, um sicherzustellen, dass es ihm gut ging. Oder war seine oberste Priorität doch Krüger? Wer weiß…

Während Ryan an einem leeren Joghurtbecher herumspielte, kam ein Mann in sterilen, hellblauen Klamotten und mit langen, zusammen gebundenen Haaren herein. Edgar Maas setzte sich an den Tisch gegenüber. Aber woher kannte Ryan seinen Namen? Es war wie ein Gefühl, er spürte es einfach, für ihn war er Edgar Maas.

Ryan sah, wie er sich über den Eintopf hermachte, den er sich gerade eben bestellt hatte. Die Kassiererin hatte ihm einen eingerissenen Fünf Euro Schein zurückgegeben, das ärgerte ihn sehr. Sollte er den Eintopf nehmen? Am Ende würde er sich noch seine Kleidung einsauen. Egal, er hasste die hellblauen Fetzen sowieso, warum musst er das gleiche tragen, wie die anderen Krankenschwestern und Pfleger? Auf dem Weg zur Kantine hatte er sich überlegt, was er sich wohl zu Essen bestellen würde. Wahrscheinlich war das gute Zeug schon nicht mehr zu haben. Die Überstunde war’s wert gewesen. Wert, zu spät zu kommen, aber dafür... glücklich.

„Hey Britt.“ Vor Edgar stand eine junge Krankenschwester mit nussbraunem Haar und einem Stethoskop um den Hals.

„Hey Ed, ich werd’ dich wahrscheinlich heute Abend brauchen. Frau Endrich wird’s glaub ich nicht mehr lange machen. Oder besser gesagt, ich hoffe es. Der verdammte Bruder meldet sich einfach nicht mehr.“ Sie verdrehte die Augen. „Machst du erst jetzt Pause? Viel zu tun?“

Edgar antwortete: „Die arme Frau... Ja, ich bin die Woche nur für die Toten zuständig. Gerade sterben einfach viele…“

Er zwang sich zu einem gequälten Lächeln. Zuvor war er einen kahlen Krankenhausgang entlanggelaufen. Es war das erste Mal an diesem Tag gewesen, dass er Sonnenlicht gesehen hatte. Der Aufzug am Ende des Korridors hatte ihn davor vom Keller des Krankenhauses nach oben in den ersten Stock gefahren. Im Keller befand sich die Pathologie. Als er auf dem Weg zum Aufzug durch den dunklen Gang ohne Sonnenlicht gelaufen war, kam er zu dem Schluss, dass er seinen Job wohl doch mochte, auch, wenn er gerade eben noch anders darüber gedacht hatte. Hier unten in der Pathologie war nie jemand. Er war kein Einzelgänger, hatte Freunde, kam mit seinen Arbeitskollegen gut aus, aber hier unten konnte er allein sein, hier konnte er… er selbst sein. Er bog um die Ecke und verließ den Korridor, aus dem er gekommen war. In der Mitte des Ganges waren die silbernen Flügeltüren aus Edelstahl, die den Zugang zur Pathologie markierten. Edgar betrat den kleinen Vorraum zu seinen zwei Arbeitsstätten.

Das eine Zimmer war eine Art kleiner OP, in dem die Obduktionen durchgeführt wurden. Das andere eine Kammer, deren Wände aus silbernen Edelstahl-Särgen bestanden, in denen die Leichen auf ihre Abholung warteten. Edgar war immer noch sauer. Jetzt hatte er es schon geschafft, allein zu sein, was musste er denn bitte noch alles tun? Er hatte davor das Schloss des Raumes mit den Toten so laut entriegelt, dass das Knallen noch oben bei den Onkologen zu hören gewesen sein musste. Davor hatte er widerwillig seine Arbeit beendet und eine junge blonde Patientin, die an einem plötzlichen Schlaganfall gestorben war, wieder zurück in ihr kaltes, dunkles Loch geschoben. Nicht, ohne sie vorher von dem silbernen Edelstahltisch zu hieven, der in der Mitte des Raumes verbaut worden war und an dessen Seite so oft schon trauernde Hinterbliebene geweint hatten. Gut, dass er da war! Der Anruf, der ihn davor erreicht hatte und den er wegen der permanenten Pager-Nachrichten nicht ignorieren konnte, hatte ihn fast zur Weißglut getrieben. Und von wem? Von Antje Smits. Der Oberschwester aus der Onkologie. Wirklich, dafür? Das war es, das nicht hätte warten können: „Wir werden dich in einer Stunde brauchen. Die Verwandten werden bis dahin gegangen sein.“

Er nahm den Anruf entgegen, während er immer noch auf die Frau unter sich starrte. Das arme Mädchen. Gestorben an einem Schlaganfall, mit 19. 19! Und da sag noch einer, das Leben sei fair. Wer hat denn mit 19 einen Schlaganfall? Mit 19? An der körperlichen Fitness konnte es auf jeden Fall nicht liegen. Sie hatte einen durchtrainierten, sportlichen Körper, das konnte er ohne Zweifel bezeugen, während er seinen Penis in sie rammte und ihre kalten Brüste quetschte und knetete, als wären es Stressbälle. Schweiß tropfte von seiner Stirn, er küsste sie und fuhr ihr über das Gesicht. Was war es wohl, worauf sie stand? Hm, was magst du, Kleines? Er musste sich bemühen, liebkoste Wange und Stirn, wanderte dann weiter zu ihrem Hals. Während er seinen Penis immer wieder in ihre kalte Fotze rammte, flüsterte er ihr zu: „Bist du beeindruckt, Kleines?“

Oh ja, sie liebte ihn! Er schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. Ihr Kopf legte sich leblos zur Seite. Gott, war das eine schöne Frau und jetzt hatte sie ihren Traummann gefunden. Er wusste, dass er sich auch um sie kümmern musste. Die Zeit davor hatte er seinen Spaß gehabt, zugegeben, Frauen standen nicht auf Anal, das war etwas für Männer, aber sie hatte ihm gesagt, dass es okay ist. Dass sie es wollte. Dass sie wollte, dass er Spaß hat. Sie war eine so gute Frau, so ein braves Mädchen. Und er war anfangs vorsichtig gewesen, später nicht mehr, aber anfangs, gewiss. Er hatte Gleitgel verwendet und ihr vorsichtig mit dem Zeigefinger den Anus geweitet, erst dann drang er in sie ein, immer und immer wieder. Davor hatte er sie auf dem Tisch entkleidet, langsam und romant….

Ryan saß an seinem Tisch und blickte entsetzt zu Edgar hinüber. Er realisierte langsam wieder, wo er war und dass er schwer atmete. Er fasste sich an die Schläfe. Sie triefte vor Schweiß. Der Joghurtbecher war von seiner Faust zerquetscht worden. Die Muskeln in seinen Beinen zitterten, als hätten sie gerade einen Marathon hinter sich. Adrenalin durchschwamm jeden Millimeter seines Körpers. Was war da gerade passiert? Leon kam zurück und setzte sich wieder auf den Stuhl ihm gegenüber.

„Rate mal, wer ein Date mit Laura hat?“ Ryan starrte ihn an. Leons Euphorie verblasste.

„Sag mal, ist alles in Ordnung? Du bist ´n bisschen blass.“ Ryan konnte nicht antworten. Er hatte schon tausendmal Leute beobachtet, er war Analyst, der Großteil seines Jobs bestand darin, Leute zu beobachten. Er stellte oft Vermutungen an, versucht zu erahnen, was die Frau an dem Tisch dort drüben beruflich machte, oder warum der Mann am Bahnhof so wütend war, aber es war ihm noch nie passiert, dass ein Film vor seinem inneren Auge ablief. Vor allem nicht so... so detailliert. Es war außerdem nicht seine Absicht gewesen, er hatte diesen Mann, diesen Edgar, gar nicht analysieren wollen, nur zu ihm hinüber gesehen. Gegen das, was dann folgte, konnte er sich nicht wehren. Es ratterte einfach erbarmungslos hinunter, wie ein rückwärts abgespieltes Video, vor dem er seine Augen nicht verschließen konnte. Was war das?

„Ryan?“, legte Leon nach.

„Ich muss nochmal zum Doktor“, flüsterte er. Leon reagierte sofort. Anscheinend war ihm sein Zustand durchaus anzusehen.

„Okay, komm, ich helf’ dir zu gehen!“

Leon zog ihn hoch und sie verließen langsam die Cafeteria. Edgar Maas blieb allein zurück und genoss seinen Eintopf.

Augenreisser

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