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Prolog

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Ryan betrat das Restaurant, das sich seinen Eingang mit einem kleinen Kino teilte. Nach einer Weile führte ihn ein Kellner zum Tisch und er nahm Platz.

Vor ihm lag feines Besteck. Auf der weißen Serviette ruhte ein silbernes Brotmesser, das im Licht der Hängelampen über ihm helle Punkten an die Decke reflektierte. Ryan schenkte dem Glitzern keine Beachtung und ließ seinen Blick lieber durch den Raum schweifen, als es von Neuem begann. Noch vor zwei Jahren hätte es ihn an den Rand des Wahnsinns getrieben, der Versuch, etwas dagegen zu unternehmen oder es gar zu steuern, wäre ihm missglückt. Doch dort im Restaurant hatte er es ganz gut unter Kontrolle. Er sah nur das, was er sehen wollte, Gegenwart und ein bisschen Zukunft, keine Vergangenheit, das Hier und Jetzt war spannend genug!

Draußen wurde es dunkler, Wolken türmten sich mächtig übereinander und schon auf dem Weg zum Restaurant hatte es nach Regen gerochen. Gerade war wohl ein Film zu Ende gegangen, denn dutzende Leute schoben sich wild schwatzend durch das verglaste Foyer hindurch raus auf die Straße.

Dann stand sie da. Ryans Augen begannen zu leuchten. Sie hielt die Hand ihres Papas und trug noch immer eine Mütze. Ihre Haare waren anscheinend noch nicht nachgewachsen, aber wenn die Ärzte ihr erlaubten, sich im Kino einen Film anzusehen, dann konnte das nur eines bedeuten: Sie war über das Schlimmste hinweg. Ryan hatte die kleine Jasmin zuletzt im Krankenhaus gesehen. Er machte das hin und wieder, packte seine Gitarre ein und besuchte wildfremde Menschen auf den Krankenstationen, Junge, Alte, dem Tode Geweihte. Mit ihnen redete er dann, spielte ein bisschen Musik oder verschenkte hineingeschmuggelte Schokolade. Er war sicherlich kein Heiliger und baute erst recht keine persönliche Beziehung zu denen auf, die er traf. Er tauchte lediglich für ein paar Stunden in ihre Welt ein, genauso schnell verließ er sie dann auch wieder und nahm nichts davon mit hinüber in seine eigene. Eigentlich tat er es für sich. Im Grunde war sein Handeln im höchsten Maße egoistisch. Wenn man selbst nicht genau wusste, was mit einem passierte, wo einem der Kopf steht, welche Entscheidungen man treffen sollte, dann tat es immer gut, sich vor Augen zu führen, was Leben bedeutet: Sterben. Schlafen. Nichts weiter.

Ryans Gedanken waren jetzt vollends bei Jasmin und ihrem Sieg angekommen, sein Blick galt nur ihr und ihrem Vater. Doch während sich dieser gerade daran machte, der Kleinen den Schuh neu zu binden, drängte sich etwas anderes in das Bild, etwas Neues. Ryan biss sich auf die Zähne, sein Kiefer verkrampfte, knackte unter der Last, die er ihm auferlegte. Er kannte den Mann, dessen Beine sich soeben zwischen ihn und das kleine Mädchen gedrängt hatten. Ihre Blicke trafen sich. Er hatte dunkles, zur Seite gegeltes Haar und trug einen modischen, schwarzen Mantel, obwohl es dafür eigentlich viel zu schwül war.

Es passierte schnell, Ryan war chancenlos. Weil der Mann ohne Vorwarnung aufgetaucht war, blieb ihm keine Zeit sich vorzubereiten, geschweige denn dagegen anzukämpfen. Dann sah er es. Zwei Stunden waren genug, um Ryans Leben zu zerstören, es in Trümmer zu zerschlagen. Hätte er noch zögern sollen, darüber nachdenken? Alle Optionen durchgehen? Wozu? Es gab keine Optionen mehr. Ryan konnte die Stimme des Mannes in seinem Kopf hören: Ich möchte, dass du erkennst, dass es keinen Ausweg gibt.

Es gab immer einen Ausweg! Der Mann machte auf dem Absatz kehrt und ging wieder nach draußen. Hinter ihm waren Jasmin und ihr Vater bereits verschwunden. Gut. Sie sollte nicht sehen, was gleich passieren würde. Ryan erhob sich, berührte dabei seine Jacke, die glitt vom Stuhl und fiel zu Boden. Egal, er würde sie nicht brauchen, wohl aber das Brotmesser, das auf der weißen Serviette immer noch fröhlich glänzte. Wie in Trance schob er sich Richtung Ausgang, streifte dabei eine Kellnerin, die torkelte und ein Glas Wein von ihrem Tablet auf den Boden fallen ließ. Die weißlich-gelbe Flüssigkeit des Chardonnay entfloh dem zerberstenden Gefängnis aus Kristall und verteilte sich quer über den Boden. An jedem anderen Tag hätte sich Ryan tausendfach entschuldigt, hätte der Dame höchstpersönlich geholfen die Splitter aufzusammeln, um die Folgen seines Missgeschicks aus der Welt zu schaffen. Heute gab es keinen Grund mehr dazu. Er wusste, was er zu tun hatte, was vor ihm lag, hässlich, aber unausweichlich. Alle Blicke waren jetzt auf ihn gerichtet, während er durch die beiden gläsernen Türen zuerst in das Foyer und schließlich nach draußen gelangte. Der Mann in Schwarz war schon ein gutes Stück die Straße hinunter gelaufen. Ryan kam ihm immer näher.

„Hey!“, rief er ihm nach. Der Mann blieb stehen, ohne sich umzudrehen. Damit war alles klar. Ryan wäre per se durch seine Größe und Statur schon ein gefährlicher Gegner gewesen, doch die Tatsache, dass er ein Ex-Militär, ein Mann der Schlacht war, machte ihn zu einem überlegenen Gegenspieler. Er hob das Brotmesser hoch in die Luft, die Messerspitze verdrängte dabei dicke Regentropfen aus ihrer Bahn. Erst jetzt drehte sich der Mann um und blickte entsetzt der Klinge entgegen. Ryan grinste ihn an. Vom Licht einer Straßenlaterne erhellt, blitzte das Silber mehrmals auf, während es durch die kühle Nachtluft schnitt. Es kam seinem Ziel immer näher und verschwand schließlich vollends darin.

Der Mann japste und taumelte, während Ryan das Messer noch tiefer in seine eigene, rechte Augenhöhle rammte. Der Schmerz durchrannte seinen ganzen Körper, überfiel ihn, drohte ihn zu überwältigen, doch er hielt stand. Jeder Millimeter seiner Physis schrie, brüllte um Erbarmen, aber er konnte nicht aufhören, noch nicht, denn der schwerste Teil stand ihm erst bevor. Mit einem festen Ruck riss er das Messer aus seinem Schädel. Der Schmerz war so überwältigend, dass er auf die Knie fiel.

Ab jetzt wird es besser, komm schon, KOMM SCHON! Zitternd bewegte er seinen Daumen und Zeigefinger auf das Loch zu, das er soeben geschlagen hatte. Während er in sich hineingriff, begann er zu schreien, brüllte so laut er konnte. Oder vielleicht auch nicht. Er wusste es nicht mehr genau. Seine Sinne begannen sich zu trüben, zu entsagen, faul zu werden. Er kannte jetzt nur noch ein Bestreben und Scheitern war ihm nicht vergönnt. Er tastete scheinbar endlos in sich herum und wurde dabei los, was vor weniger als zwei Minuten noch sein Auge gewesen war. Blut spritzte um ihn herum und färbte den feuchten Teer in ein bedrohliches Zinnoberrot.

Zuletzt riss er die Hand aus sich heraus und fiel vorn über. Das Eindringen hatte Spuren an seinen Denkprozessen hinterlassen. Es gab keine Sprache oder Logik mehr, keine Mathematik oder Physik, kein Prosa oder Kitsch, es gab nur noch Eines. Obwohl er sich gerade die Hälfte seiner Sehkraft selbst genommen hatte, sah er doch klarer und intensiver als je zuvor. Zuerst Jasmin, dann sie. Es gab nur sie. Sterben, Schlafen und sie.

Augenreisser

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