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3.

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Die Zuckerdose auf dem Tisch war eine seltene, eine schöne. Genauso wie das Teeglas davor und wie der Laden, in dem sie sich befand. Das Mobiliar war im arabischen Stil gehalten und auch das Klientel war arabischer Herkunft. Ein paar Eigenheiten in ihrer DNA färbten ihre Haare schwarz und ihre Haut karamellbraun. Ein paar Eigenheiten in ihrer DNA, die es ihnen in diesen Tagen durchaus schwer machen konnten. Links am Tisch neben ihm saß eine sehr attraktive Frau. Schwarzes Haar, traditionell buntes Kleid, wie es die Inder bei ihren heiligen Festen trugen.

Er hatte überlegt sie anzusprechen, bis ihr Mann mit der gemeinsamen Tochter aufgetaucht war. Jetzt saßen sie zufrieden dort drüben, lachten, aßen Baklava und Matthew saß immer noch allein an seinem Tisch. Weiß Gott, warum er überhaupt hier war, er selbst wusste es jedenfalls nicht. Ihm war alles entglitten, alles und jeder. Seine Freundin hatte ihn verlassen, weil sie sagte, er sei gruselig. Seinen Job hatte er verloren, weil er einmal inmitten von dutzenden zerschlitzen Paketen aufgewacht war. Und er? Er konnte sich an nichts erinnern. Nicht einmal körperlich. Wenn er so etwas getan hätte, dann müsste er doch direkt im Anschluss irgendwelche Folgen spüren? Aber da war nie etwas. Es war, als würde sich jemand einen Spaß daraus machen ihn auszutauschen, wie die Figur auf einem Spielfeld. Doch damit war jetzt Schluss! Er hatte ihnen ein Ultimatum gestellt und war seitdem so vorsichtig, wie er nur konnte.

Er blickte hinüber zu der kleinen, bescheidenen Theke. Im ‚Lamacun‘ gab es ironischerweise keinen Döner, nur Tee und Gebäck. Er war oft dort. Der Besitzer hatte ihm einmal erzählt, dass er auf dem Weg in den Westen seine Familie verloren und dann diesen Laden gekauft hatte. Die Bilder seiner Frau, seiner drei Söhne und seiner Tochter hingen überall im Laden verteilt. So lebte er seit zehn Jahren mit seinem kleinen Laden allein und doch im Kreise seiner Familie.

Das kleine Glöckchen an der Tür verriet einen neuen Gast. Aus dem Augenwinkel sah Matthew ein seltsames Leuchten, nein, ein Blitzen. Weißes Licht tanzte für den Bruchteil einer Sekunde über die vielen kleinen Teekannen und Tässchen, nur um dann ins Nichts zu verlaufen und innerhalb von Millisekunden wieder zurückzukehren. Matthew wandte seinen Blick Richtung Tür. Der Mann, der soeben eingetreten war, hatte die Aufmerksamkeit aller Gäste des ‚Lamacuns‘ auf sich gezogen. Er trug einen kurzen, schwarzen Mantel, mit hochgestelltem Kragen, blauer Jeans und hatte eine Glatze. Seine Augen waren tot und kalt. Er war von großer Statur, trug Lederhandschuhe und hielt etwas, das aussah wie ein IPad. Obwohl es so klein war, brachte es doch eine beeindruckende Helligkeit zustande. Der Bildschirm zeigte abwechselnd Schwarz und Weiß, Hell und Dunkel. Daraus entstand ein schnelles Flackern, das immer wieder den Rhythmus änderte.

Die meisten im ‚Lamacun‘ starrten ihn fragend an. Sie waren nicht gerade erfreut darüber, dass man ihnen einen Baustrahler ins Gesicht hielt und mit Strobo-Beleuchtung auf die Nerven ging. Der Besitzer meldete sich zu Wort: „Guter Mann, würden Sie dieses Licht ausschalten. Es stört meine Gäste.“

Der Mann mit Glatze würdigte ihn keines Blickes, antwortete jedoch sehr wohl auf seine Bitte: „Oh, ich kenne mindestens einen hier, den es nicht stört.“ Dann blickte er direkt zu Matthew hinüber. Der starrte gebannt auf das Spiel aus Licht und Dunkelheit. Für Matthew gab es nichts anderes mehr, nur die Quelle des Lichts und des Schattens. Er drehte den Kopf, blickte nach links, wo die Tochter der hübschen Frau auf einem Butterkeks herum kaute.

Er stand auf, packte sich die Zuckerdose, holte aus und schlug mit voller Kraft zu. Knochen brachen, Menschen schrien. Vom Blut rot gefärbter Zucker tropfte in Klumpen auf den Boden. Der Vater versuchte, ihn von einem zweiten Schlag abzuhalten, doch Matthew zog ein Butterfly-Messer aus seiner Tasche, ließ die Klinge aufblitzen und rammte es dem Mann in die Seite. Der Vater röchelte und ging hilflos zu Boden.

Die Frau war an der Reihe. Matthew spürte, wie er seine Hände um ihre Kehle presste. Sie war sehr leicht, geradezu ein Kinderspiel, sie in die Luft zu wirbeln und dann auf dem kleinen runden Tischchen aufkommen zu lassen. Sie wehrte sich, es dauerte lange. Sie zappelte unentwegt und versuchte seinen Fängen zu entkommen wie eine gefangene Forelle am Haken. Er hob sie weitere zweimal an und schlug ihren Kopf auf den Tisch. Sie war noch nicht tot. Das machte ihn wütend. So wütend!

Er begann sie immer wieder anzuheben und gegen den Tisch zu schlagen. Blut spritzte um sie herum und benetzte die Wände und Familienfotos. Matthew machte weiter. Nichts hielt ihn auf, bis ein leises Knacken das Ende der Frau kennzeichnete. Gut für sie.

Der Großteil der Gäste war bereits aus dem Laden geflohen, nur der Besitzer war noch übrig. Er würde seiner Familie nicht von der Seite weichen, ging auf die Knie, hob die Arme vors Gesicht und flehten ihn an. Mit einem hässlichen Klirren zerbarst eine Untertasse in seinem Gesicht. Er kippte vorn über und landete auf dem Boden. Matthew bestieg ihn und begann, mit beiden Fäusten auf den Hinterkopf einzuprügeln, Schlag um Schlag, dass Knochen brachen, nicht nur die seines Opfers. Blut und grauweiße Masse spritzte zu den Seiten, als würde man einen Ballon mit Innereien zum Platzen bringen. Schließlich stand er röchelnd und schwitzend auf. Er brauchte mehr. MEHR! Er wollte raus aus dem Laden.

Draußen lief eine Frau vorbei, er konnte sie durch die Fenster hindurch sehen. Sie würde es sein, sie ist es! Er nahm Tempo auf, lechzte nach ihr, verzehrte sich nach ihr, während ein Donnern durch seinen Kopf hallte. Die Frau ging unberührt weiter ihres Weges. Sie würde nie erfahren, was in diesem Café geschehen war. Sie würde nie erfahren, dass sie von Matthew als nächstes Opfer ausgewählt worden war. Sie würde nie erfahren, dass genau dieser Mann jetzt auf dem Boden des ‚Lamacun‘ lag, mit einem Loch in seinem Kopf.

„Wissen wir, wer der Mann mit diesem Bildschirm war?“, durchbrach Ryan das betretene Schweigen, das eingesetzt war, nachdem Grinder ihnen den Vorfall geschildert hatte. Dieser lächelte ihn an. „Ja, richtig. Der Mann, nun…“

Er nahm einen satten Schluck Whiskey und musste sichtlich an sich halten, um nicht zu husten.

„Der Mann ist eventuell die Lösung eines ganz anderen Problems. Wir wissen immer noch nicht, was Matthew Dickens dazu bewegt hat, dieses kleine Massaker zu veranstalten. Er war bis dato komplett unauffällig. Eher ein Einzelgänger. Hatte quasi keine Freunde oder Familie. Er war als Baby nach London gekommen, man hatte ihn alleine in der Nähe von Bagdad aufgelesen. Er kam dann bei einer englischen Waiseneinrichtung unter. Die haben ihn auch benannt, deswegen der englische Name entgegen seiner Herkunft. Er hatte eine Freundin und als Lagerarbeiter in einer großen Spedition gearbeitet.“

Grinder blätterte in einer Akte, die er soeben aufgeschlagen hatte: „Sonst nichts Auffälliges, natürlich der übliche Krimskrams, Internetverlauf, Strafregister, aber alles in allem sauber.“

Er rieb sich die Augen. „Und dabei haben Sie natürlich recht, wir müssen unbedingt herausfinden, was diese Lichtquelle war, was sie mit dem Amoklauf zu tun hat und wie der Mann mit Glatze damit in Verbindung steht. Die Überwachungskameras zeigen, dass er eine Art Bildschirm bei sich hatte. Herr Martin Knabe versucht gerade herauszufinden, was das für ein Ding war. Er ist ja sowas wie unser Inhouse-It-Spezialist. Auf jeden Fall ist der Mann direkt nach dem Vorfall untergetaucht. Eine Rasterfahndung hat zunächst nichts ergeben… Zumindest vor zwei Tagen.“ Leon und Ryan wurden hellhörig.

„Vor zwei Tagen?“, hakte Leon nach.

„Ja, vor zwei Tagen. Unsere Zielperson hält sich in Amsterdam auf.“

„Woher kommt die Information?“, fragte Ryan

„Er hat eingecheckt. Im Mövenpick-Hotel. Als man ihn festnehmen wollte, war sein Hotelzimmer leer…“ Grinder hielt inne. Ryan kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass ihm etwas unangenehm war. Zum einen hatte er nicht direkt auf seine Frage geantwortet, woher die Information kam, zum anderen schien ihn offensichtlich etwas umzutreiben. Es wirkte so, als hätte er den wahren Grund für ihr Treffen noch nicht offenbart.

„Ich will ganz ehrlich zu Ihnen sein. Wenn es nach dem BND ginge, dann würde man diese Angelegenheit London und im jetzigen Moment den Holländern überlassen. Ich halte das für einen Fehler. Die ganze Situation ist… besorgniserregend. Aber ich werde bei denen sicher nicht betteln!“ Er ruckte kurz den Kopf nach oben.

„Ich habe Kontakt mit der zuständigen Behörde in Holland aufgenommen. Sie werden uns einbeziehen. Allerdings nur direkt vor Ort. Wir müssten also jemanden hinschicken. Da… bleiben nicht so viele Optionen…“ Nun begann Ryan zu begreifen, worauf Grinder hinaus wollte und auch, warum er damit so lange zurückgehalten hatte. Er war normalerweise ein Mann der direkten Worte, doch dieses Thema schien selbst ihm Respekt abzuverlangen. Weil es um Ryan ging.

„Sie beide werden nach Amsterdam fliegen. Ihre Aufgabe wird es sein, die Lage vor Ort zu beurteilen und dem niederländischen Geheimdienst AIVD auf die Finger zu schauen. Ihr Flieger geht heute Abend. Alles weitere erfahren Sie dann vor Ort.“

Augenreisser

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