Читать книгу Mein Leben für die Hexenkinder - Maïmouna Obot - Страница 10
Niemals Nigeria
ОглавлениеNichts ist mir fremder als die Heimat meines Vaters und nichts zieht mich dorthin. Nigeria – noch so ein Land, in dem ich aufgrund meiner Hautfarbe sofort als »fremd« abgestempelt sein würde und nie einfach in der Masse untertauchen könnte. Nein, lieber reise ich nach Lateinamerika, wo alle meinen Hautton haben und ich mit meinem fast akzentfreien Spanisch oft als Einheimische durchgehe. Nigeria. Nein, da würde ich mich zwar mit Englisch verständigen können, aber da ich weder Pidginenglisch noch eine der anderen über zweihundert Sprachen Nigerias spreche, würde ich oft nicht verstehen, was um mich herum vorgeht. Und in ein Land zu reisen, in welchem ich der lokalen Sprache nicht mächtig bin, verstößt gegen meine mir selbst auferlegten Sicherheitsvorkehrungen. Zu riskant. Nein, Beas »wir« bezog sich sicher nicht auf mich.
Am folgenden Tag ruft Bea mich an. »Ich kann einfach nicht aufhören, daran zu denken. Was sie den Kindern dort im Namen Gottes antun, ist unfassbar! Maї, ich muss was tun! Wir müssen etwas tun!«
Ich kann hören, wie Beas Stimme bricht. Wird sie jetzt etwa anfangen zu weinen? »Bea, schau, die Dokumentation ist von 2009. Wer weiß, vielleicht hat sich die Situation ja schon verbessert. Immerhin hatten Millionen Menschen die Möglichkeit, das zu sehen und etwas zu tun.«
Bea antwortet mit fester Stimme: »Maї, natürlich haben viele Menschen das gesehen, aber nicht alle wissen das, was wir wissen. Und nicht alle sind Christen! Wir haben alles in der Hand, was es braucht, um diesem Treiben Einhalt zu gebieten.«
Langsam verstehe ich: Das »wir«, von dem Bea redete, dieses »wir« bezieht sich auf die Kirche. Kirche im Sinne von Glaubensgemeinschaft, nicht im Sinne von steinerner Kathedrale. Als Ankläger der Hexenkinder und als Verbreiter des Hexenglaubens ist die Kirche Teil des Problems. Sie kann – ja, sie muss! – aber auch Teil der Lösung sein. Hier handelt es sich um eine falsche Glaubensüberzeugung einer mehrheitlich christlichen Bevölkerung. Die Menschen in Nigeria handeln oft in der Überzeugung, Gott mit Hexerei-Anklagen einen Gefallen zu tun. Man müsste hingehen und als Bruder und Schwester im Glauben zusammen mit der Bevölkerung herausarbeiten, was die Bibel über Hexen und Dämonen sowie über Kinder zu sagen hat. Jesu Haltung zu Kindern ist eindeutig: »Lasst die Kinder zu mir kommen. Haltet sie nicht zurück! Denn das Himmelreich gehört ihnen« (Matthäus 19,14). Und in Matthäus 18,3 steht: »Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nie ins Himmelreich kommen.« Jesus erhöht Kinder, lädt sie ein und macht sie den Erwachsenen zum Vorbild. Die Kirche – »wir« – halten mit der Bibel den Schlüssel in der Hand, um bei den Menschen in Nigeria den ersehnten Sinneswandel herbeizuführen.
»Und was schlägst du jetzt konkret vor?«, frage ich Bea.
»Du fährst nach Nigeria und schaust dir die Situation vor Ort an«, antwortet sie wie aus der Pistole geschossen.
Damit habe ich nicht gerechnet. »Warum ich? Warum nicht du oder wir beide gemeinsam?«
Bea seufzt. »Na, das liegt doch auf der Hand: Du hast Verwandte in Nigeria, die dir als Anlaufpunkt dienen können. Und du bist Single und hast keine Kinder. Was sollte ich denn in der Zeit mit meinen drei Mädchen machen?«
Es ist also beschlossene Sache.
Einige Tage später fahre ich zurück nach Deutschland und … mache erst einmal nichts. Ein Umzug vom Rheinland nach Bayern steht an und eine vielversprechende Stelle beim Bundesnachrichtendienst wartet auf mich. Ins Innere der Pullacher Behörde zu gelangen und die Bundesrepublik vor Angriffen aus dem Ausland schützen – das wird eine Aufgabe sein, der ich mich mit ganzem Einsatz widmen kann! Das wird ein wohlinvestiertes Leben sein.
Aber schon nach einem Monat setzt Ernüchterung ein. Wie in Köln treffe ich auch hier auf verkrustete Strukturen. Aufregend? Fehlanzeige. Wichtig für Deutschland? Aus meiner Sicht nicht. Sachorientiert? Das Wort kennt für mein Gefühl dort kaum einer. Und ich beginne mich zu fragen: Ist es das jetzt? Ist das mein Auftrag? Das geduldige Ertragen boshafter Mobbingattacken und die Erledigung unsinniger Aufträge? Oder vergeude ich gerade mein Leben? Erneut bete ich: »Herr, bitte schenk mir doch eine Aufgabe, oder soll es umsonst gewesen sein, dass du mich geschaffen hast?«
An Weihnachten 2015 habe ich wieder Kontakt zu Bea. »Maї, wie geht es dir?« Ich lade meinen ganzen Frust über die Arbeit bei ihr ab.
»Tut mir leid für dich«, sagte sie. »Weißt du, ich habe dem Leiter des Kinderheims geschrieben, das da in der Dokumentation porträtiert wurde. Er sagt, sie haben gerade nicht genug zu essen.«
Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. »Oh.« Nach einer längeren Pause sage ich: »Ich kann ja mal versuchen, mit meiner Verwandtschaft dort Kontakt aufzunehmen. Ich schaue mir auch das Heim an. Okay?«
Ich kann hören, wie zufrieden Bea jetzt ist. »Okay!«
In den folgenden Monaten kontaktiere ich mehrere Verwandte in Nigeria sowie den Leiter des Kinderheims in der Kleinstadt Eket im Bundesstaat Akwa Ibom. Überall scheine ich offene Türen einzurennen. »Ja, natürlich, komm! Wir haben schon auf dich gewartet!«
Während in meinem Büro die Arbeitsaufträge immer abstruser werden – Bitte planen Sie den Betriebsausflug der Abteilung minutengenau in drei Varianten und nehmen Sie sich dafür zwei Wochen Zeit –, beginne ich, mich mit den Reisevorbereitungen für das mir unbekannte Land und den mir unbekannten Kontinent zu beschäftigen. Ich will auf der Reise herausfinden, ob sich die Situation seit 2009 geändert hat und ob dort überhaupt Hilfe gebraucht wird. Mein Plan sieht vor, nach meiner Rückkehr Pastoren und ganze Gemeinden dafür zu gewinnen, ihren Glaubensgeschwistern in Nigeria tatkräftige Hilfe zukommen zu lassen. Sicherlich würden sich viele Theologen begeistern lassen und sich mit mir auf den Weg machen. Zu keinem Zeitpunkt sehe ich mich selbst vor Ort aktiv werden.
Afrika, das ist einfach nicht mein Ding. Lieber will ich in Deutschland ehrenamtlich tätig sein, am liebsten unter arabischsprachigen Christen und Flüchtlingen aus dem Nahen Osten. In meiner Freizeit lerne ich wie besessen Arabisch und bekritzele jeden noch so kleinen Schnipsel Papier mit den neuen Vokabeln in der neuen Schrift. So lassen sich auch nicht enden wollende Sitzungsmarathons unbeschadet überstehen. Und wer weiß? Vielleicht würde ich die neuen Sprachkenntnisse auch beruflich nutzen und beim Bundesnachrichtendienst Bedeutungsvolleres tun können, als Abteilungsausflüge vorzubereiten.