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Privilegiert

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Nach ein paar Tagen in Lagos bei Verwandten habe ich gelernt, wie man ohne Strom und ohne Wasser den Tag übersteht, und habe mir ein paar nützliche nigerianische Floskeln zugelegt. Nun geht es mit dem Flugzeug nach Uyo weiter, der Hauptstadt des Bundesstaates Akwa Ibom, wo sich das Kinderheim befindet, mit dem ich Kontakt aufgenommen habe. Mit dem Leiter des Heims habe ich über Facebook verabredet, eine Woche im Kinderheim zu verbringen. Ich soll die Kinder kennenlernen und dem Leiter helfen, den zum Erliegen gekommenen Dialog mit den lokalen Entscheidungsträgern wieder in Schwung zu bringen. Er erhofft sich, dass »den Weißen« – also mir – Türen geöffnet werden, die ihm bisher verschlossen geblieben sind.

Der Kolonialismus und der mit ihm einhergehende Rassismus haben die Menschen in Nigeria und in weiten Teilen Afrikas den Selbsthass gelehrt. Weiß ist gut, lautet das alles beherrschende Dogma. Und ein bisschen Weiß ist immer noch besser als Schwarz. Ein Bittsteller findet eher Gehör, wenn er eine irgend geartete Verbindung zu einer weißen Person nachweisen kann beziehungsweise von einer weißen Person auf seinem Bittgang begleitet wird. Durch seine hellhäutige Begleitung steigt er im Ansehen der Leute.

Dieser Realität begegnen 77 Prozent aller nigerianischen Frauen mit der regelmäßigen Verwendung von bleihaltigen Bleichcremes, die es selbst im kleinsten Dorfladen zu kaufen gibt. Die Cremes verleihen der Haut einen unansehnlichen Gelbton, indem sie die natürliche Struktur zerstören. Die Frauen nehmen in Kauf, sich zu entstellen, ihre Nieren langfristig zu schädigen und sich sogar nach und nach zu vergiften, nur damit sie dem Schönheitsideal »weiß« ein Stückchen näherkommen. Weiß ist in der Auffassung der Menschen gleichbedeutend mit Glück, Wohlstand und Fortschrittlichkeit.

Ich selbst habe mir zunächst die Zuschreibung Weiß verbeten, denn ich verstehe mich eindeutig als Schwarze. Genauer gesagt: Ich bin Schwarze Deutsche. Schwarz bezeichnet in diesem Kontext nicht den eigentlichen Hautton eines Menschen, sondern steht als Selbstbezeichnung für alle Menschen afrikanischer Abstammung, die in der weißen Mehrheitsgesellschaft derselben ethnischen Gruppe zugeordnet werden und aufgrund dieser Exotisierung dieselben Rassismuserfahrungen gemacht haben. Daher benutze ich in diesem Zusammenhang immer das große S im Wort Schwarz.

Aber in Nigeria führt diese Erläuterung regelmäßig zu hysterischem Gelächter. »Du? Schwarz? Hahahaha, kommt her, Leute, und seht euch diese Schwarze an!« Solche Szenarien lasse ich einige Male mit viel Bauchgrimmen über mich ergehen. Meine Erklärung, dass ich in Deutschland und in Europa nicht als weiß wahrgenommen werde, geht im allgemeinen Gejauchze unter.

Ich gebe auf und sehe ein: In Nigeria bin ich weiß. Ja, denn hier genieße ich mit meiner honiggoldglänzenden Haut wie aus braunem Zucker die Privilegien, die sonst auf der Welt nur weißen Menschen vorbehalten sind. Ich werde überall freundlich begrüßt und werde zuvorkommend behandelt, man achtet darauf, dass ich regelmäßige Mahlzeiten erhalte, weil mein »weißer« Körper angeblich nicht mit Hunger umgehen kann, anders als nigerianische Körper. Überall werde ich sofort zum Chief, Offizier oder sonst einer oberen Charge geführt, denn selbstverständlich kann man eine »weiße« Person nicht mit den niederen Rängen abspeisen.

Diese neue Hautfarbe wiegt auch schwerer als mein Geschlecht und mein relativ jugendliches Alter. Wo anderen jungen Menschen – insbesondere jungen Frauen – niemals Zutritt gewährt würde, erhalte ich ihn. Ich beobachte mich in dieser neuen Rolle wie von außen und empfinde dieses Privileg als abstoßend. Gleichzeitig nutze ich es aus, denn natürlich ist es mir recht, wenn ich beispielsweise nachts nach einer Veranstaltung Begleitschutz erhalte, während andere Frauen allein gehen müssen.

Einmal im Leben nicht als Bedrohung wahrgenommen zu werden wie in Deutschland, nicht aufgrund meiner Hautfarbe automatisch als ungebildet eingestuft zu werden und nicht beweisen zu müssen, dass ich genauso gebildet bin wie mein Gegenüber – das schafft Verhandlungsspielraum. Angenehm. Aber gleichzeitig auch erschreckend. Und ich begreife, dass es nicht ausreicht, sich seines Privilegs bewusst zu sein, vielmehr muss man dieses Privileg auch aktiv zurückweisen, damit alle eine faire Chance haben.

Schon im Anflug auf Uyo erkenne ich, wie grün und fruchtbar Akwa Ibom ist. Der Bundesstaat gleicht einem riesigen Regenwald. Auf der Autofahrt von Uyo nach Eket kann ich diesen grünen Reichtum aus der Nähe betrachten. Auch am Straßenrand wachsen überall Bananen, Kochbananen, Ananas und Palmfrüchte. Kein Haus ohne Garten, zu jeder Schule gehört eine Lehrplantage. Auf den Straßen ein geschäftiges Treiben. Mofa-Taxis, die berühmten Okadas, sausen zwischen Autos und Lastwagen hin und her, Frauen springen in letzter Sekunde auf die Seite und balancieren gleichzeitig große Körbe mit Brot und Snacks auf dem Kopf. Riesige Tanklaster bevölkern die Straßen und zeugen vom Ölreichtum der Region. Und überall Kinder, die fröhlich an der Hand ihrer Eltern hopsen. Dieser Ort soll nun das Zentrum der aktuellen Hexenjagden sein? Auf den ersten Blick lässt nichts darauf schließen.

Die Heimleiterin Frau Kent holt mich mit dem Taxi ab und wir fahren einmal quer durch die Stadt, bis in den an der Ausfallstraße gelegenen Außenbezirk Esit Eket. Auf einem großen, grasbewachsenen Schulhof kommen wir zum Stehen. Am anderen Ende des Hofs ertönt Geschrei und eine Gruppe Kinder quillt aus der Tür des lang gezogenen Bungalows. Die Kinder haben Plakate in der Hand und rufen laut »Willkommen, willkommen, Tante Maїmouna!«, während sie hüpfend und tanzend auf das Auto zulaufen.

Ich steige aus und die Heimleiterin zischt mir zu: »Haben Sie etwas für sie? Etwas Süßes?« Verwirrt blicke ich sie an. Aber ja doch! Schokolinsen habe ich noch in letzter Sekunde gekauft und eingepackt. Ich ziehe die beiden Beutel aus dem Koffer und schon umringen mich die Kinder. Es sind circa dreißig Kinder, vom Säugling bis zum Teenager ist jede Altersklasse vertreten. Alle haben kurz geschorene Haare. Das ist zum einen sehr praktisch, wird aber auch vielen Schulen in Nigeria als verpflichtende Haartracht vorgeschrieben. Doch auch erwachsene Nigerianer tragen den Low Cut, der als modern und sportiv gilt.

»Willkommen, willkommen, Tante Maїmouna!«, skandieren die Kinder. Ich reiße einen Beutel auf und verteile Schokolinsenpäckchen an die Kinder, die alle artig vor mir knicksen beziehungsweise sich verbeugen und »Danke, Tante!« sagen. Ich fühle mich höchst unwohl und überwältigt. So hatte ich Afrika nie begegnen wollen: Die weiße Wohltäterin, die willkürlich Almosen an die ihr unbekannte hungrige Menge verteilt, die bewundernd zu ihr aufblickt. Aber in genau solch einer Szene stecke ich gerade und ich kann ihr nicht entfliehen.

Mein Leben für die Hexenkinder

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