Читать книгу Mein Leben für die Hexenkinder - Maïmouna Obot - Страница 20
Ikot Ifot
Оглавление»Sag schon, Hope, woher kommst du?«, bohrt Deborah nach. Ich schrecke hoch und blicke sie stumm an.
»Bist du taub, oder was? Woher du kommst, will ich wissen!« Ich senke meinen Blick und ziehe mich in mich selbst zurück.
»Die weiß nicht, wer sie ist, die weiß gar nichts. Die ist ein Geist!«, kräht der vorlaute Emmanuel und alle fangen an zu lachen.
»Ja, wer keine Vergangenheit hat, hat keine Zukunft! Hope, du bist so gut wie tot!«, pflichtet Lawrence ihm bei und das Gelächter wird größer.
»Genug!« Deborah steht auf und setzt sich zu mir. »Mach dir nichts draus. Wenn du nicht weißt, wo du herkommst, dann erzähle ich dir eben von meinem Zuhause. Ich mag die Geschichten aus dem Dorf, weil sie von glücklichen Tagen sprechen.«
Dann erzählt Deborah mir von Ikot Ifot, einem kleinen verschlafenen Nest, wo es alles im Überfluss gibt: Nigerianische Birnbäume mit ihren länglichen, dunkelvioletten Früchten, Kochbananen und süße Bananen, Yam-Plantagen und mehr Ziegen als Menschen. Das Schönste an Ikot Ifot: Familie. Deborah hat fünf Geschwister, einen Vater und eine Mutter sowie unzählige Verwandte. Von niemandem geht Gefahr aus, überall ist sie willkommen. Sie berichtet von Lagerfeuern, Schulstreichen und ausgelassenen Weihnachtsfeiern.
Ich ahne, dass Deborah einiges ausschmückt, denn wenn es in Ikot Ifot tatsächlich so schön gewesen wäre, wie sie behauptet, dann würde sie jetzt nicht in Eket auf der Straße leben. Wenn aber auch nur ein winzig kleiner Teil von Deborahs Geschichten wahr sein sollte, dann ist Ikot Ifot das Paradies auf Erden.
Ich fange an, von diesem Ort zu träumen und bald sehe ich mich selbst am Lagerfeuer sitzen und Birnen rösten. Wie schön! Und was, wenn Ikot Ifot mein wahres Zuhause ist? Wenn dort meine Mutter auf mich wartet und sich nach mir sehnt? Deborahs Dorf ähnelt in vielem dem Dorf, in das ich mich früher träumend zurückgezogen habe. Dieselben sandigen Pfade, dieselben Pflanzen, die Ruhe.
Plötzlich erhalte ich einen harten Stoß und fliege kopfüber in den Straßengraben. Ich habe nicht aufgepasst und bin fast von einem Motorrad überfahren worden. Mit Tränen in den Augen krabbele ich die Böschung hinauf und blicke dem Verkehr nach, der stadtauswärts zieht.
Da fasse ich einen Plan: Ich werde mir Geld erbetteln und dann in einen Bus steigen, der mich nach Ikot Ifot bringt. Vielleicht finde ich ja meine Familie und dann wird alles wieder gut. Denn die anderen Kinder haben recht: Ohne Dorf und ohne Familie hat man keine Vergangenheit. Und ohne Vergangenheit gibt es keine Zukunft.
An den nächsten Tagen packe ich besonders fleißig und gewissenhaft überall dort mit an, wo ich gebraucht werde. Ich fege die Schlafplätze unter der Brücke am Fluss, wo wir vor Regen und neugierigen Blicken geschützt sind, ich schrubbe das Gemüse und achte darauf, alles gut zu würzen. Trotzdem habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich die wenigen Geldscheine, die ich ergattere, nicht bei Saviour abgebe wie alle anderen, sondern sie in meiner Hose verstecke.
Fünf Tage später ist es so weit: Ich hab genügend Geld für ein Ticket nach Ikot Ifot angespart. Deborah hat mir erklärt, in welchen der Busse ich einsteigen muss. Sie wunderte sich erst darüber, dass ich – die ich ansonsten unsichtbar und still bin – sie auf einmal mit Fragen über Ikot Ifot löcherte. Nach der anfänglichen Verwunderung aber hat sie begeistert angefangen zu erzählen, denn sie war froh darüber, dass sie mir nicht mehr jedes Wort aus der Nase ziehen musste.
Nun sitze ich auf der hintersten Bank, neben einer Mutter, die ihre beiden Kinder auf dem Schoß hält und zwischen den Füßen einen überdimensional großen Reissack platziert hat. Als der Bus beinahe voll ist, steigt noch einer der Haltestellenprediger zu, der die Fahrgäste mit einem nicht enden wollenden Segen überzieht und dann den Hut für eine milde Gabe herumgehen lässt. Kurz vor der Stadtgrenze springt er ab.
Dann geht die Fahrt über Land und ich nehme das viele Grün durstig in mich auf. Nach zwei Stunden erreichen wir Ikot Ifot. Ich bin die Einzige, die an diesem Halt aussteigt. Ich folge dem Wegweiser und nach zweihundert Metern spüre ich, wie der Asphalt unter meinen Füßen weichem Sandboden weicht. Das ist die Straße, die ich in meinen Träumen gesehen habe! Am liebsten würde ich jetzt tanzen und laut jubeln, aber ich halte an mich und laufe schnell, mit einem breiten Lächeln im Gesicht, immer weiter ins Dorf hinein.
In Ikot Ifot gibt es sowohl die luxuriösen Villen derer, die nur an den Feiertagen von der Stadt ins Dorf kommen, als auch die Hütten derer, die ihr ganzes Leben im Dorf geblieben sind. Dazwischen stehen viele halb fertige Gebäude, denn gebaut wird immer nur dann, wenn es gerade Geld gibt. Wenn keines da ist, dann pausieren die Bauarbeiten. Ich laufe und laufe, aber außer dem Gefühl der allgemeinen Vertrautheit habe ich nicht das Gefühl, dass eines der Häuser mich in besonderem Maße anzieht. Nirgendwo erspähe ich die »Mutter«, die ich so oft in meinen Träumen gesehen habe. Nach ungefähr zwei Stunden setze ich mich erschöpft unter einen Baum auf dem Dorfplatz. Nur kurz verschnaufen! Kaum habe ich die Augen geschlossen, falle ich in einen traumlosen Schlaf.