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Abschied

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Der nächste Tag ist der Tag vor meiner Abreise. Ich möchte noch ein paar Geschichten zu Ende dokumentieren und Zeit mit den Kindern verbringen. Es regnet in Strömen, so wie es nur in der nigerianischen Regenzeit zu regnen vermag. Wir müssen laut sprechen, um einander zu verstehen, denn der Regen trommelt mit Macht aufs Dach.

Plötzlich stürmt Frau Kent herein und kommt aufgeregt auf mich zu: »Oto-Obong ist sehr krank! Wir brauchen einen Fahrer und müssen ins Krankenhaus und Medikamente besorgen! Geben Sie mir hundert Euro!«

Ich atme tief durch. »Nein, es ist kein Geld mehr da. Schon der Ausflug gestern lag über meinem Budget. Ich habe bereits eintausend Euro ausgegeben. Das geht nicht mehr. Es tut mir leid.« Ich bin mir in diesem Moment nicht sicher, ob ich das Richtige tue. In den vergangen fünf Tagen hat es bereits mehrere medizinische Vorfälle gegeben und stets habe ich Geld für Medikamente ausgegeben. Alle Kinder haben Malariaprophylaxe und eine Zahnbürste erhalten. Seit Frau Kent wusste, dass ich einen Tag früher abreisen würde als geplant, waren die Geldbitten in immer kürzeren Abständen auf mich eingeprasselt. Aber nun kann und will ich nicht mehr.

»Okay.« Frau Kent schaut mich an. »Dann bringen wir Oto-Obong eben zu seinem Vater, damit er sich um ihn kümmert. Kommen Sie mit, ich brauche Sie.«

Oto-Obong ist ein einjähriger Junge, der mit seiner neunzehnjährigen Mutter Catherine im Heim lebt. Sie war selbst als Hexenkind verfolgt worden und hatte einige Zeit im Heim verbracht. Mit sechzehn lief sie davon und heiratete einen jungen Mann in der Hoffnung, nun endlich ein normales Leben führen zu können. Sie gebar zwei Kinder: das Mädchen Uduak und Oto-Obong. Aber schon kurz nach Oto-Obongs Geburt war sie wieder der Hexerei bezichtig worden. Auch Oto-Obong war als Kind einer »Hexe« in Gefahr und so war Catherine mit ihren Kindern wieder im Heim gelandet.

Mit Regenschirmen bewaffnet machen wir uns auf den Weg zur Straße. Unsere Füße sind sofort nass und bald auch die Kleider. Über zehn Minuten stehen wir im strömenden Regen an der Straße. Wir hoffen auf ein Taxi für Frau Kent, mich, Catherine und ihre Kinder. Die Straßentaxis sind recht günstig. Aber bei diesem Wetter machen sich die meist bessergestellten Taxifahrer nicht auf den Weg. Sie fürchten die durch den Regen größer gewordenen Schlaglöcher in der Straße. Bei diesem Wetter sind fast ausschließlich Motorradtaxis, die Okadas, unterwegs.

»Maї, das Baby fiebert. Wir müssen jetzt dringend los.« Kaum hat sie das gesagt, winkt Frau Kent zwei Okadas heran. Sie nimmt Catherine das Baby ab, drückt es mir in die Hand, steigt auf ihr Motorrad hinter Catherine und Uduak und ruft: »Wir sehen uns dann dort!«

Ich stehe da wie versteinert. In der einen Hand einen Regenschirm und auf dem Arm ein fieberndes Kind, das vor sich hin wimmert. Ich hasse Motorräder und habe geschworen, nie im Leben auf solch eine Höllenmaschine zu steigen. Der Fahrer fährt mich unwirsch an, ich solle endlich aufsteigen. Ich sehe keinen Ausweg und tue, was er sagt. Mit den Oberschenkeln umklammere ich das Gefährt und schon geht es los. Das Wimmern des Kindes wird immer leiser, ich fürchte um sein Leben. Um uns herum peitscht der Regen. Ich versuche, Oto-Obong so gut es geht zu beschützen. Habe ich vielleicht einen Fehler begangen? Hätte ich einfach das Geld für die Behandlung zahlen sollen? Plötzlich kommt mir Goethes Ballade Erlkönig in den Sinn. Ich fühle mich wie dieser Vater, der mit seinem Kind im Arm durch Nacht und Nebel reitet, getrieben von grausigen Visionen des Erlkönigs! Der Vater hat, als er zu Hause ankommt, ein totes Kind im Arm – mich graust es. Was für schreckliche Gedanken! »Oh Herr«, bete ich, »lass uns den Hof lebendig erreichen! Beschütze Oto-Obong!« Inbrünstig bitte ich um Bewahrung und nach einer nicht enden wollenden Fahrt werden meine Gebete schließlich erhört: Wir kommen an und Oto-Obong lebt.

Nach unserer Regenfahrt bricht unvermittelt der wolkenverhangene Himmel auf und die Sonne lacht über uns, als hätte sie den Tag über nichts anderes getan. Catherines Mann, seine Eltern, Geschwister und deren Kinder sitzen auf der überdachten Veranda vor ihrem Haus. Wir setzen uns dazu. Ohne sich in langen Vorreden zu verlieren, beginnt Frau Kent mit ihrer Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit.

Über zwei Stunden zieht sich die ausschließlich auf Efik geführte Unterhaltung hin. Ich verstehe nicht viel, aber die Körpersprache und Gesten der Beteiligten sind eindeutig. Oto-Obong wird von seinem Vater auf den Arm genommen und stolz betrachtet. Catherine setzt sich neben ihren Mann, nicht neben Frau Kent, und gibt damit zum Ausdruck, dass sie sich als dieser Familie zugehörig empfindet. Frau Kent erklärt mir erschöpft in zwei Sätzen das Verhandlungsergebnis: Catherine und die Kinder werden wieder aufgenommen, sie bitten mich nur um finanzielle Unterstützung für Oto-Obongs Medikamente. Froh über diesen Ausgang unseres Abenteuers gebe ich ihnen mein letztes Geld und wir verabschieden uns voneinander.

Nun sitze ich im Flugzeug zurück nach Hause und lasse die vergangenen Wochen Revue passieren. Ich bin froh, die Reise unternommen zu haben. Mir ist klar geworden, dass den wenigen Ehrenamtlichen in den Kinderheimen im täglichen Überlebenskampf keine Zeit dafür bleibt, Aufklärungskampagnen gegen Hexerei-Anklagen durchzuführen und die Bevölkerung zu sensibilisieren. Außerdem fehlt es ihnen oft an theologischem Wissen, um den Hasspredigern Paroli bieten zu können.

Es bedarf finanzieller Ressourcen, Mitarbeiter und vor allem theologischer Expertise, um im großen Stil ein Umdenken sowohl bei Pastoren als auch bei der Bevölkerung zu bewirken. Die in Nigeria praktizierte Hexenverfolgung ist ein durch die Kirche geschaffenes Problem, die Kirche ist gleichzeitig aber auch der Schlüssel zur Lösung für dieses Problem. Denn Kirche, das ist eine weltweite Gemeinschaft. Ich bin mir sicher, dass sich Christen von allen Enden der Erde berufen und sich in diesen Dienst stellen lassen werden.

Mein Leben für die Hexenkinder

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