Читать книгу Mein Leben für die Hexenkinder - Maïmouna Obot - Страница 14
Schicksale
ОглавлениеDas Frühstück für den nächsten Tag haben wir Gott sei Dank bereits am Abend zuvor besorgt. So kann es gleich nach dem Aufstehen losgehen: Süßes Weißbrot wird in heißen Kakao gedippt und zergeht dann auf der Zunge. Mmmhhh. Sehr lecker! Die Kinder bringen mir ein paar Wörter und Sätze auf Efik bei. Sie unterhalten sich hauptsächlich in dieser Sprache, Englisch lernen sie nur in der Schule und benutzen es im Gottesdienst.
Die Kinder, die nicht lange in der Schule waren, haben oft Schwierigkeiten, mich zu verstehen. So versuche ich, ihnen mit den neuen Wörtern ein bisschen näherzukommen. Es klappt. Gemeinsam schauen wir uns ein paar der Bücher an, die ich ihnen mitgebracht habe. Bei der Auswahl war mir aufgefallen, wie viele der deutschen und europäischen Kinderbuchklassiker von Hexen und Geistern handeln. Jedes zweite Bilderbuch war daher ungeeignet für diese bereits traumatisierten Kinder.
Nach einer Weile werden die Kids unruhig und ich schlage ein Ballspiel vor. »Tante, unser Ball ist kaputt!« Wir beschließen, auf dem nahe gelegenen Markt einen neuen Ball zu erstehen, und kurz darauf rasen wir gemeinsam zwischen den Toren hin und her und spielen Fußball, als gäbe es kein Morgen mehr. Mir fällt auf, dass einige Kinder große Narben am Kopf haben. Sie sehen anders aus als die üblichen Schönheitsnarben, die manche Nigerianer im Gesicht tragen. Naiv frage ich meinen ungefähr achtjährigen Mitspieler: »Hat deine Narbe eine Bedeutung?«
Er blickt mich ernst an: »Das ist passiert, als sie mir den Kopf öffnen wollten, damit der Teufel aus mir ausfahren kann.«
Mit offenem Mund schaue ich ihm nach, wie er weiter dem Ball hinterherjagt. Etwas in mir möchte nicht mehr wissen. Nicht aus dem Mund der Kinder. Es passt nicht zu unserem Spiel und den fröhlichen Unterhaltungen.
Ich beschließe, Frau Kent um die Geschichten der Kinder zu bitten. Sie hat alles fein säuberlich in Ordnern aufgeschrieben und dokumentiert. In Nigeria werden Berichte der Polizei- und Sozialbehörden fast ausschließlich handschriftlich verfasst, obwohl das Land keinesfalls von der technologischen Entwicklung abgeschnitten ist. Aufgrund der höchst unzuverlässigen Stromversorgung sind jedoch Bleistift und Schreibmaschine immer noch das bevorzugte Mittel der Wahl, um den Behördenalltag einigermaßen am Laufen zu halten. Das führt allerdings auch dazu, dass es sehr einfach ist, eine Akte verschwinden zu lassen, denn man muss sich keine Gedanken darüber machen, dass irgendwo noch eine Kopie existiert. Hinzu kommt, dass die monatelange hohe Luftfeuchtigkeit durch die Regenzeit insbesondere im Süden des Landes dafür verantwortlich ist, dass Papierakten eine äußerst kurze Lebensdauer haben. Das Papier fängt binnen kürzester Zeit an zu schimmeln und wenn die Akten nicht regelmäßig in die Sonne gelegt werden, kann man schon bald nichts mehr erkennen.
Den Nachmittag verbringe ich mit einem ganzen Stapel solcher Akten in meinem kleinen Häuschen und schreibe die Geschichten der Kinder in meine Kladde, während Frau Kent noch das ein oder andere Detail hinzufügt. Viele Geschichten sind recht kurz. Zum Beispiel: Emem war der erste Sohn seines Vaters. Als seine Mutter starb und sein Vater kurz darauf eine andere Frau heiratete, beschuldigte diese ihn der Hexerei. Die Anklage wurde vom Pastor bestätigt und Emem wurde verstoßen. Er lebte ein Jahr auf der Straße, bevor ihn ein Helfer ins Kinderheim brachte.
Andere Geschichten enthalten viele Wendungen, Kinder werden mehrmals verstoßen und wieder aufgenommen, gefoltert und für »befreit« erklärt, nur um kurz darauf wieder angeklagt zu werden. Frau Kent zeigt mir auch Zeitungsartikel und Fotos von grausam verstümmelten Kindern und Frauen, die ihren Verfolgern nicht entkommen konnten. Da ich mich sehr konzentrieren muss, um alles schnell zu erfassen, zu fotografieren und zu übersetzen, bleibt mir keine Zeit dafür, jedes einzelne Schicksal gesondert zu betrauern. Ich funktioniere einfach und weiß, dass die einzige Möglichkeit, diesen Kindern zu helfen, darin besteht, ihr Schicksal bekannt zu machen.