Читать книгу Mein Leben für die Hexenkinder - Maïmouna Obot - Страница 15

Versöhnungsversuche

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Am darauffolgenden Tag buchen wir einen Fahrer, um mit drei Kindern ihre Heimatorte zu besuchen. Diese Versöhnungsarbeit ist ein wichtiger Baustein in der Arbeit der Kinderheime, die sich der Hexenkinder annehmen. Denn ein Nigerianer ohne Familie, ohne Zugehörigkeit zu einem Dorf, hat weder auf dem Arbeits- noch auf dem Heiratsmarkt gute Chancen. So gut wie jeder Nigerianer kann seine Herkunft auf ein Dorf zurückverfolgen. Nur wer ein Dorf und somit eine Vergangenheit hat, hat auch eine Zukunft. Das Dorf ist gleichzeitig auch Familie. Für ein Mitglied des eigenen Dorfes wird man in Notzeiten einstehen, vielleicht auch etwas Geld spenden und auf jeden Fall ein gutes Wort einlegen.

Ohne Dorf keine Hochzeit. Denn bei traditionellen Hochzeiten müssen beide Dörfer ihre Zustimmung zu der Verbindung erteilen. Wer nicht traditionell heiratet, ist in den Augen der Bevölkerung nicht verheiratet, obwohl vor dem Gesetz eine zivile Ehe genügt. Weil die Verbindung zum Dorf eine derart wichtige Rolle für die Zukunft der Kinder spielt, wird auch in den Fällen schlimmster Folter und Missbrauchs eine Wiederannäherung, eine Versöhnung versucht. Dieser Prozess kann sich jahrelang hinziehen. Bei manchen Kindern ist es sogar möglich, sie nach einer Weile wieder in ihre Ursprungsfamilie zurückzubringen. Dies ist immer riskant, denn nicht selten kommt es bald zu neuen Anklagen. Aber wenn die Heime nicht auf diese Weise versuchen würden, Platz zu schaffen, hätten noch weniger Kinder die Chance auf ein normales Leben.

Die drei Kids haben sich zurechtgemacht und ihre Sonntagskleidung am Tag zuvor noch mit Hingabe geschrubbt und gewaschen. Je näher wir ihren Dörfern kommen, desto stiller werden sie. Die erste Familie, die wir besuchen wollen, ist die von Emem. Er ist zehn Jahre alt und kam vor etwa zwei Jahren ins Heim. Die Sonne scheint über seinem Dorf, wir haben Glück und bleiben trotz Regenzeit trocken.

Doch obwohl die Sonne lacht, liegt über dem Dorf ein dunkler Schatten. Alle Häuser scheinen leer und unbewohnt zu sein. Es wirkt wie eine kleine Geisterstadt, irgendwie unheimlich. Als hätten sich die Bewohner von einem Tag auf den anderen aus dem Staub gemacht und alles zurückgelassen. Auf den Feldern zwischen den Häusern wuchern die Pflanzen wild vor sich hin, reifes Obst hängt ungeerntet an den Bäumen.

In einem Haus treffen wir schließlich auf Menschen. Eine Familie wohnt hier auf dem blanken Boden und ernährt sich von dem, was sie anbauen kann. Alle sind unwahrscheinlich mager und nur mit Stofffetzen bekleidet. Das Familienoberhaupt führt uns in einen der hinteren Räume. Dort liegt eine alte Frau auf dem Boden. Frau Kent beugt sich zu ihr hinunter und erklärt ihr auf Efik den Grund unseres Kommens. Die alte Dame erhebt sich mühsam und stützt sich auf mich. Frau Kent erklärt mir auf Englisch, dass dies Emems Großmutter ist. Sie war vor zehn Jahren von ihren eigenen Kindern als Hexe aus ihrem Dorf vertrieben worden und hat deshalb nie ihren Enkel kennengelernt. Damals wurden vor allem alte Frauen und manchmal auch alte Männer der Hexerei beschuldigt. Kurz darauf wandte sich die öffentliche Meinung gegen Kinder und so kam es, dass auch Emem angeklagt wurde. Er konnte fliehen.

Daraufhin erfasste eine wahre Welle an Anklagen das Dorf, sodass irgendwann alle flohen und ihre Häuser und Felder zurückließen, um andernorts Schutz zu suchen. Die Bevölkerung ist verarmt. Das Beispiel dieses Dorfes zeigt, dass Hexerei-Anklagen nicht nur ein soziales und ein menschenrechtliches Problem sind, nein, sie sind auch ein wirtschaftliches Problem. Die Angst vor Hexerei hält die Menschen derart gefangen, dass sie lieber ihre Lebensgrundlage aufgeben und sich in Armut stürzen, als sich weiterhin in von Hexen »verseuchten« Gebieten aufzuhalten.

Vor dem Haus treffen Emem und seine Großmutter zum ersten Mal aufeinander. Sie sprechen nicht miteinander. Die alte Dame steht vor ihrem Enkel und schaut ihn an. Sie kennt den Schmerz, den er durchlitten hat. Das Gefühl der Einsamkeit, wenn sich die ganze Familie gegen einen wendet. Unaussprechliches ist geschehen. Tränen laufen über ihr faltiges Gesicht und dann kommen auch Emem die Tränen. Schließlich umarmen sie sich.

»Sosongo, sosongo, sosongo!«, flüstert mir Emems Großmutter zu. »Danke, danke, danke!« Wir können ihr ihren Enkel nicht übergeben. Das Dorf ist leer, er kann hier nicht zur Schule gehen und es ist gefährlich. Wenn die Bewohner der umliegenden Dörfer erfahren, dass ein Hexenkind zurückgekommen ist, könnten sie versuchen, Emem zu töten. Außerdem hat die Großmutter fast nichts zum Leben. Sie war nach zehn Jahren in das Dorf zurückgekehrt in der Hoffnung, dass Gras über die Sache gewachsen sein würde. Aber sie hatte nur alte Bekannte wieder getroffen, die sie trotz ihrer eigenen Armut in ihr Haus aufnahmen. Wo ihre Kinder sind, weiß sie nicht. Wir kaufen an einem nahe gelegenen Straßenstand Reis und Bohnen und übergeben diese Säcke im Namen der Großmutter an ihren Gastgeber in der Hoffnung, dass er sich weiterhin um sie kümmern wird. Dann fahren wir weiter.

Der nächste Halt ist inmitten eines dichten Dickichts von allerlei grünen Pflanzen. Von oben fallen noch immer Regentropfen des letzten Schauers hinunter, die sich langsam ihren Weg durch das dichte Blätterdach gebahnt haben. Wir besuchen die Familie der elf Jahre alten Faith, einem fröhlichen, sportbegeisterten Mädchen. Mit dem Auto können wir nicht bis zu Faiths Heimatdorf fahren, denn die kleine Siedlung befindet sich tief in diesem Dickicht. Ich bin sehr froh über meine langen Hosen, habe ich doch panische Angst vor allem, was kreucht und fleucht! Insekten sind jedoch das geringste Problem hier. Ein größeres Problem ist der Alkohol und die Geringachtung menschlichen Lebens.

Nach einem zehnminütigen Fußmarsch kommen wir auf einer kleinen Rodung an. Sechs Männer sitzen um ein offenes Feuer und trinken Hochprozentiges, neben sich Macheten. Es liegt eine aggressive Stimmung in der Luft. Alle haben entblößte Oberkörper und als sie uns sehen, kommen sie mit finsteren Blicken auf uns zu. Die Kinder verstecken sich hinter uns, der Fahrer hält gebührenden Abstand. Frau Kent nimmt eine leicht gebeugte Haltung ein und redet auf Efik in einem beschwichtigenden Tonfall auf die Männer ein.

Nach ein paar Minuten lockert sich die Stimmung, uns wird Selbstgebrautes angeboten und wir setzen uns mit den Männern auf die niedrigen Hocker, die auf dem regennassen Waldboden stehen. Frau Kent bedeutet Faith, sich neben ihren Vater zu setzen. Es ist der Wortführer. Ein muskulöser, gut aussehender Mann Ende zwanzig mit freudlosen Augen. Er schaut seine Tochter nicht an, sondern wendet sich mir zu. Er glaubt, sich vor mir, der Fremden, rechtfertigen zu müssen. »Ich bin Pastor und ich bin ein studierter Mann! Also komm nicht auf die Idee, mir irgendetwas vorschreiben zu wollen«, sagt er auf Englisch. Ich frage mich, was Frau Kent den Männern bloß erzählt hat, denn die Unterhaltung hat bis zu diesem Zeitpunkt nur auf Efik stattgefunden.

»Ich bin ein studierter Mann!«, wiederholt Faiths Vater fast drohend.

Krampfhaft versuche ich, die Situation zu deeskalieren. »Freut mich, dich kennenzulernen. Ich hatte das große Privileg, jetzt zwei Tage mit Faith verbringen zu dürfen. Sie ist ein tolles Mädchen, so eifrig und wissbegierig! Ich gratuliere dir zu deiner Tochter. Wie lange habt ihr euch denn jetzt nicht mehr gesehen?«

Faiths Vater geht auf meine Frage ein. »Ein Jahr. Vor einem Jahr hat sie mich schon einmal besucht.«

Ich fasse Mut und frage ihn darüber aus, warum Faith ihr Zuhause verlassen musste. So erfahre ich ihre Geschichte. Die Mutter ist vor fünf Jahren gestorben, als Faith sechs Jahre alt war. Nach dem Tod ihrer Mutter sei Faith »wild« geworden, habe nur noch mit Jungs spielen wollen und ihre Pflichten im Haushalt vernachlässigt. Das missfiel ihrer neuen Stiefmutter, die sie daraufhin der Hexerei verdächtigte. Denn normale Kinder seien immer gehorsam, Faith aber sei ungehorsam gewesen. Faiths eigener Vater bestätigte als Pastor der lokalen Kirchengemeinde diesen Verdacht.

»Woher konntest du dir sicher sein, dass deine Tochter eine Hexe ist?«, frage ich nach.

Faiths Vater steht auf, lässt seine Muskeln spielen und zischt zwischen seinen Zähnen hindurch: »Ich bin ein studierter Mann. Ich weiß, wie sich die Stimme des Heiligen Geistes anhört!«

Frau Kent hat ein gequältes Lächeln auf dem Gesicht. In gekonnt fröhlichem Ton flötet sie: »Sollen wir ein paar Fotos machen?«

Brav reihen wir uns alle vor dem Häuschen auf. Faith steht ganz dicht neben ihrem Vater, die beiden berühren sich aber nicht. Die Ähnlichkeiten sind frappierend. Das gleiche makellose Gesicht, der athletische Körperbau, das etwas scheue Lächeln. Eine natürliche Einheit. Eigentlich. Wenn die Hexerei-Anklage die beiden nicht auseinandergerissen hätte.

Faith zupft mich am Arm: »Tante, ich möchte dir etwas zeigen!« Sie zieht mich tiefer ins Dickicht hinein, obwohl ich eigentlich am liebsten so schnell wie möglich von hier weg möchte. Plötzlich öffnet sich der Wald, wir haben Sand unter den Füßen und stehen an den Ufern eines kleinen Flusses. Kinder spielen ausgelassen im Wasser, tauchen, schwimmen, bewerfen sich mit Schlamm und schaukeln mit Lianen über dem Wasser. Es ist wunderschön.

»Das war mein Lieblingszeitvertreib, als ich noch zu Hause wohnte,« sagt Faith.

Ich lege den Arm um sie. »Ja, das kann ich mir vorstellen. Das wäre auch mein Lieblingsort gewesen.«

Wir stehen noch ein paar Augenblicke in dieses Idyll versunken, bevor eine etwas panische Frau Kent uns zurückbeordert. Ein weiterer Besuch liegt noch vor uns und es ist schon spät.

Der Besuch im Heimatort des achtjährigen Gideon führt uns in eine ganz andere Szenerie. Das Dorf liegt an einer breiten Straße und scheint sehr wohlhabend zu sein. Die Häuser sind groß, hübsch und bunt, die Vorgärten gepflegt, die Ziegen und Hühner dick. Die Straßen sind gefegt und weitgehend leer. In diesem Dorf wohnt Gideons Onkel. Seine Eltern können wir nicht besuchen, denn sie haben gedroht, den Jungen umzubringen, sollte er noch einmal bei ihnen erscheinen. Der Onkel hatte ihn gerettet und ins Heim gebracht. Wir hoffen, dass er Gideon an Kindes statt aufnimmt und sich um ihn kümmert.

Nun tritt er vor die Tür seines Hauses und bedeutet uns, auf der Veranda zu warten. Dann verschwindet er schnell wieder im Haus. Verdutzt tun wir, wie uns geheißen. Ob er uns wohl etwas zu essen und trinken bringt? Nach einer Weile kehrt Gideons Onkel mit zwei circa sechs und sieben Jahre alten Kindern zurück: »Die hier könnt ihr auch mitnehmen. Die kann niemand gebrauchen, das sind Hexen. Und bei euch gibt es ja Schule, Essen und Kleidung umsonst.«

Aha, daher weht der Wind. Frau Kent und ich blicken uns an und verstehen. Das Dorf hat mitbekommen, dass Gideon überlebt hat und zur Schule geht. Jetzt möchten alle im Dorf unliebsame Kinder ins Heim abschieben. In Nigeria ist es üblich, dass Kinder ärmerer Verwandter oder auch Waisen von Tanten und Onkeln großgezogen werden. Nicht selten werden sie in sklavenähnlichen Verhältnissen gehalten. Kaum eines dieser Kinder darf in die Schule gehen und zu essen bekommen sie auch kaum. Häufig wollen die Verwandten diese Kinder aber wieder loswerden. Und so sind sie darauf gekommen, all diese Kinder der Hexerei anzuklagen, um die finanzielle und auch moralische Verantwortung für sie loszuwerden.

»Es gibt noch mehr solcher Hexenkinder im Dorf. Diese sind von meinen direkten Nachbarn, aber weiter die Straße hinunter gibt es noch einmal zwei!«, sagt Gideons Onkel eifrig.

Frau Kent erhebt sich schnell. »Nein, danke. Unser Heim ist voll. Wir wollten mit dir eigentlich darüber sprechen, wie toll sich Gideon im letzten Jahr gemacht hat. Er sollte bei dir wohnen, damit er nicht im Heim groß werden muss. Aber das ist jetzt wohl nicht der richtige Zeitpunkt. Wir kommen nächstes Jahr wieder. Mach’s gut!« Zu mir gewandt sagt sie: »Gehen wir!«.

Ich blicke mich nach den anderen beiden mutmaßlichen Hexenkindern um. Was wohl aus ihnen jetzt wird? Werden sie wirklich angeklagt? Sind sie in Gefahr? Frau Kent bemerkt, dass ich zurückschaue, und sagt mit fester Stimme: »Es gibt Tausende solcher Kinder. Schauen Sie nicht hin. Sie können sich nur um die kümmern, für die Sie einen Schlafplatz und genügend zu essen haben. Vergessen Sie sie!« Ich weiß, dass sie recht hat. Es fällt mir nur so unheimlich schwer.

Auf der einstündigen Heimfahrt hängen wir alle still unseren Gedanken nach.

Mein Leben für die Hexenkinder

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