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Hexenkinder

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»Maї, das musst du dir unbedingt anschauen!« Bea hält sich heute nicht mit dem üblichen Begrüßungsprozedere auf. »Komm schnell, das beschäftigt mich schon den ganzen Nachmittag!« Es ist das Jahr 2015 und ich bin zu Besuch in Barcelona, meiner einstigen Wahlheimat auf Zeit. Bea läuft ins Wohnzimmer und schiebt mit einem Fuß im Vorbeigehen gekonnt Barbies aus dem Weg, die ihre drei Töchter als strategische Stolpersteine über den Boden verteilt haben.

Bea und ich kennen uns seit 2008, als ich nach meinem Ersten Juristischen Staatsexamen für fünf Monate ein Anwaltspraktikum in Barcelona absolviert hatte. Gleich am ersten Sonntag waren wir uns im Gottesdienst der baptistisch-reformierten Kirche in Sant Andreu begegnet und waren uns auf Anhieb sympathisch gewesen. Beas Eltern waren in den Siebzigerjahren aus dem spanischsprachigen Guinea-Äquatorial nach Spanien emigriert. Bea und ihre drei Geschwister waren wie ich als Schwarze in einer weißen Mehrheitsgesellschaft aufgewachsen. Wir teilen dadurch viele ähnliche Erfahrungen mit Rassismus und Ausgrenzung und verstehen einander oft blind. Während der folgenden drei Jahre, in denen ich immer wieder für einige Monate in der katalanischen Hauptstadt wohnte, waren wir wie Schwestern geworden und wohnten Tür an Tür im Torre Santa, dem heiligen Turm, wie wir scherzhaft unser Hochhaus nannten, da insgesamt vier Etagen von Mitgliedern unserer Kirchengemeinde bewohnt wurden.

»Setz dich!« Bea schiebt mir einen Stuhl hin und setzt sich selbst an den Wohnzimmertisch vor ihr Tablet. »Es ist einfach unglaublich! Wir müssen etwas tun!« Bea dreht den Bildschirm zu mir hin, klickt auf Play und ein Youtube-Video wird abgespielt. Saving Nigeria’s Witch Children ist der Titel einer Dokumentation der britischen BBC.1 Der Reporter berichtet von Unfassbarem: In Nigeria würden Kinder zu Hunderten der Hexerei angeklagt und dann ausgesetzt, gefoltert oder gar getötet.

Die aktuelle Verfolgungswelle habe ihren Ursprung in den Predigten von Pastoren aus dem pfingstlich-charismatischen Bereich. Sie predigten, dass viele Kinder in Wahrheit Hexen seien, deren einziges Ziel es sei, ihre Familie und die Gesellschaft zu zerstören. Die Furcht vor Hexen habe aber inzwischen alle christlichen Gruppierungen erfasst und versetze die gesamte Bevölkerung in Angst und Schrecken. Die Menschen glaubten, sie würden gottesfürchtig handeln, wenn sie als Hexen gebrandmarkte Kinder verstießen. Oftmals würden die Eltern aber auch gezwungen, ihr Kind zu verstoßen, um nicht selbst aus dem Dorf vertrieben zu werden und den Lebensunterhalt der gesamten Familie zu zerstören.

Immer wieder kommen in dem Bericht selbst ernannte »Geistliche« zu Wort, die ihre kruden Thesen mit aus dem Kontext gerissenen Bibelzitaten unterlegen. Die Reporter berichten, dass die »Hexenkinder« keine Lobby hätten und die allerwenigsten sich trauten, ihnen zu helfen. Nur wenige der Kinder würden Zuflucht in Kinderheimen finden. Eines von ihnen wird in der Dokumentation porträtiert.

Ich bin schockiert: Wie kann jemand aus der Bibel, die mir und Millionen anderen zum Buch des Lebens geworden ist, ein Buch des Todes machen? Gibt es niemanden, der sich diesen »Pastoren« entgegenstellt und sie Lügen straft? Und warum macht die Bevölkerung dabei mit?

»Wir müssen etwas tun!« Energisch klappt Bea das Tablet zu.

»Hä?« Verwirrt schaue ich sie an.

»Wir müssen etwas tun! Wir sind Christen und wir kennen die Bibel. Wir wissen, dass das, was dort gepredigt wird, nicht der Wahrheit entspricht. Das sind falsche Propheten!« Bea spricht wie ein Maschinengewehr und ich habe Mühe, ihr zu folgen.

»Und wer ist ›wir‹?«, frage ich.

»Du und ich natürlich!« Bea springt plötzlich wie von der Tarantel gestochen hoch und schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. »Die Mädchen! Ich habe ganz die Mädchen vergessen!« Wir haben mit der einstündigen Doku die Zeit verdaddelt und beinahe vergessen, Beas Töchter von der Schule abzuholen. Wir beeilen uns sehr und so verläuft zumindest der zweite Teil des Nachmittags wie geplant: Ich mache allen drei Mädchen aufwendige Flechtfrisuren und wir schauen nebenher Disneys High School Musical. Zwischen Haare flechten, Karaoke singen und drei drei- bis neunjährigen Mädchen, die abwechselnd um meine Aufmerksamkeit buhlen, können Bea und ich den abgebrochenen Gesprächsfaden nicht wieder aufnehmen. Mir ist das recht, denn ich will die Sache auf sich beruhen lassen.

Mein Leben für die Hexenkinder

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