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2 IM HEIM DER HEXENKINDER

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Nach der überschwänglichen Begrüßung geleiten mich die Kinder zur ehemaligen Krankenstation, die mir für die Woche als Unterkunft dienen soll. Die Krankenstation besteht aus einem leeren und kahlen Eingangsbereich sowie einem kleineren Zimmer, in dem ein Doppelbettgestell und ein alter Kühlschrank stehen. Das Klo befindet sich gleich rechts neben dem Zimmer, es dient gleichzeitig als Waschraum.

In diesem kleinen Häuschen darf ich mich wohnlich einrichten. Da ich seit meinem Aufenthalt in Lagos weiß, dass in Nigeria jederzeit mit Stromausfällen gerechnet werden muss, bemühe ich mich, mein Bett noch bei Tageslicht tropenfest herzurichten. Mit quer durch das Zimmer gespannten Wäscheleinen befestigte ich das Moskitonetz über dem wackeligen Bettgestell. Jetzt noch alle Enden straff unter die Matratze spannen – fertig. Nun heißt es, noch schnell zwei Eimer mit Wasser zu befüllen und so für Dusche und Klospülung zu sorgen. Auch das ist erledigt. Okay. Dann mal auf, die Kinder und ihr Zuhause kennenlernen, denn für sie bin ich schließlich gekommen. Vielleicht gibt es sogar etwas zu essen? Mir knurrt der Magen!

Ich gehe über die Grünfläche zu dem gegenüberliegenden Bungalow, vor dem einige Kinder Wäsche waschen. Als ich mich nähere, knicksen sie wieder und verbeugten sich, wirken beinahe scheu. Frau Kent tritt mit ausgebreiteten Armen aus dem Haus: »Komm, ich zeige dir alles!« Auf dem Gelände des Heims befinden sich ein vertrockneter Fischteich, eine kleine Gemüse- und Yamfarm sowie drei weitere Baracken: die Mädchenbaracke, die Jungsbaracke und die Schulbaracke.

Alle Gebäude sehen sehr heruntergekommen aus, der Putz blättert von den Wänden ab und die Stufen vor den Gebäuden bröckeln. Kein Fensterladen hängt gerade in den Angeln und Stromkabel baumeln nutzlos in der Luft. Ein Satz, den ich an diesem Tag noch oft zu hören bekomme, ist: »Das hat uns die Firma Soundso geschenkt, aber sie gab uns kein Geld für die Instandhaltung.«

Hier tritt ein altbekanntes Problem zutage: Große Spender sind zwar gerne dazu bereit, ab und an dem Kinderheim unter die Arme zu greifen. Aber es werden nur Dinge finanziert, die sich einfach und schnell medial ausschlachten lassen, von denen man also ein Foto machen kann. Alles andere lohnt sich für die Spender nicht. Die Heimleitung berichtet mir auch, dass das Heim momentan keinen Strom und kein Wasser hat, denn der Strom sei abgestellt worden. In Nigeria wird Strom auch dafür verwendet, Trinkwasser in die riesigen, circa fünf Meter hohen und drei Meter breiten schwarzen Tonnen zu pumpen, die auf Drahtgestellen befestigt auf vielen Grundstücken stehen. Das Wasser in diesen Tonnen wird verwendet, wenn – wie so oft – kein Wasser aus der Leitung kommt, weil mal wieder die Stromversorgung zusammengebrochen ist.

Es gibt viel zu besichtigen und zu erkunden, aber ich bin nicht mehr aufnahmefähig. Es ist schon später Nachmittag und ich habe seit dem frühen Vormittag nichts mehr gegessen. Ich frage Frau Kent, wie das mit dem Abendessen normalerweise abläuft. Sie hätten an diesem Tag noch nichts gegessen, sagt sie, denn das Essen sei aus. Und selbst wenn Essen da wäre, könne sie es nicht zubereiten, denn es gebe ja keinen Strom und auch kein Feuerholz.

Hungern will ich nicht und schon gar nicht mitansehen, wie die Kinder hungern. Also sage ich: »Macht nix, ich lade euch alle zum Abendessen ein, lass uns losgehen und alles einkaufen.« Ich hoffe auf einen kurzen Trip zum Markt und dann auf ein Abendessen eine Stunde später. Diese Hoffnung soll bald zerschlagen werden. Nigerianische Märkte sind ebenso bunt und interessant wie die Straßen. Überall wird gefeilscht, verhandelt und getauscht. Wer die Preise nicht kennt, ist verloren. Nach ein paar weiteren Aufenthalten in Nigeria begreife ich das System und verstehe mich darauf, stets einen guten Preis herauszuschlagen. Aber bei diesem ersten Marktbesuch bin ich verloren.

Frau Kent zieht mich im Schlepptau über den nur fünf Minuten vom Heim gelegenen Markt und ersteht Tomaten, Fisch, Feuerholz, Gari – ein Mehl aus Maniokknollen –, Chilischoten, Salz und Gewürze. Für jede Zutat muss sie von Neuem mit der jeweiligen Verkäuferin verhandeln, es will kein Ende nehmen. Nach zwei Stunden Einkauf sind wir auf dem Rückweg. Einige der größeren Mädchen sind uns gefolgt und tragen die Einkäufe nach Hause. Sogar das Feuerholz, das ich nicht einmal unter dem Einsatz all meiner Muskeln anheben kann, transportiert eines der Mädchen elegant auf dem Kopf nach Hause.

Frau Kent erzählt mir, dass es für sie einen Triumph bedeute, auf diesem nahe gelegenen Markt einkaufen zu können. Als das Heim gerade erst eröffnet habe, seien die Marktfrauen nicht gewillt gewesen, Nahrungsmittel an die »Hexenkinder« und ihre Helfer zu verkaufen und so »Hexengeld« einzunehmen. Die Mitarbeiter und Kinder hätten daher immer in weit entlegene Ortschaften fahren müssen, um den wöchentlichen Einkauf zu tätigen. Doch die Situation habe sich nun gebessert, manchmal könne sie sogar anschreiben, wenn das Geld knapp sei.

Zurück im Heim versuche ich, mit den Kindern das aufgrund der Regenzeit feuchte Feuerholz anzuzünden. Ein schwieriges Unterfangen. Es raucht und qualmt und es wird immer dunkler. Kurz bevor die Sonne endgültig unter dem Horizont verschwindet, haben wir endlich das Feuer in Gang gesetzt und ein großer Topf wird darüber platziert.

Ich habe beschlossen, die Kids an diesem ersten Abend nicht dazu zu befragen, warum sie in diesem Heim gelandet sind. Ich will sie erst kennenlernen. Vor allem knurren unsere Mägen viel zu laut, als dass eine Unterhaltung möglich wäre. Dann ist endlich das Essen fertig. Obwohl es für sie die erste Mahlzeit am Tag ist, bleiben die Kinder erstaunlich ruhig und stellen sich brav in eine Reihe, als Frau Kent die Essensrationen verteilt.

Erstaunlich, was selbst die Kleinsten verdrücken können! Nach dem Essen fahren den Kindern die Lebensgeister in die Glieder. Es ist zwar schon stockfinster, aber viel zu früh, um ins Bett zu gehen, und so rufen sie: »Tante, spiel mit uns!« An Armen und Händen ziehen sie mich hinüber in das kleine Büro in der Schulbaracke, einen rund fünfzehn Quadratmeter großen Raum. Frau Kent und ich stellen unsere Taschenlampen aufrecht hin, sodass der Raum in ein schummeriges Licht gehüllt wird.

»Tante, schau mal, was ich kann!« Der sechsjährige Favour und der siebenjährige Israel bewegen sich akrobatisch wie Schlangen auf dem Boden, alle Kinder beklatschen das Schauspiel. Dann beginnen sie, angeleitet von Frau Kents fünfzehnjähriger Tochter Ima, zu singen. Kräftig und laut, überhaupt nicht mehr schüchtern. Ihre Lieder handeln von Gott, von Jesus, ihrem Freund, der ihnen immer zur Seite steht.

Dann heißt es plötzlich: »Tante, was kannst du vorführen?« Ich freue mich, dass ich aktiv einbezogen werde, und erzähle den Kindern die Geschichte vom Lied der fünf Vögel, die mir als Kind auch immer so gut gefallen hat. Die fünf Vögel sind eine eingeschworene Gemeinschaft, die immer zusammen auf Futtersuche gehen. Eines Tages aber werden sie von der Gier erfasst und anstatt mit ihrem fünfstimmigen Lied die Bauern zu erfreuen, machen sie sich einzeln auf den Weg. Einstimmig ist aber keiner von ihnen der Hit und nach einer Zeit des Hungerns besinnen sie sich und kommen wieder zusammen. Das Lied der fünf Vögel begeistert die Kinder im Heim sehr und so lassen wir in ausgelassener Stimmung singend den Abend ausklingen.

Mein Leben für die Hexenkinder

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