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1. Bestimmtheitsgebot
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Mit dem Recht auf den gesetzlichen Richter soll zunächst sichergestellt werden, „dass in jedem Einzelfall kein anderer als der Richter tätig werden und entscheiden soll, der in den allgemeinen Normen der Gesetze und der Geschäftsverteilungspläne der Gerichte dafür vorgesehen ist“.[81] Das Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG zu entnehmende Bestimmtheitsgebot soll der Gefahr vorbeugen, dass durch eine auf den Einzelfall bezogene Auswahl der zur Entscheidung berufenen Richter das Ergebnis der Entscheidung beeinflusst werden kann.[82] Aus diesem Zweck des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG folgt, dass die zur Bestimmung des gesetzlichen Richters erlassenen Regelungen bereits im Voraus so eindeutig wie möglich festlegen müssen, welches Gericht, welcher Spruchkörper und welche Richter zur Entscheidung des Einzelfalls berufen sind.[83] Die gesetzlichen Bestimmungen sind durch Geschäfts- und Mitwirkungspläne der Gerichte zu ergänzen, die der Schriftform bedürfen und im Voraus generell-abstrakt die Zuständigkeit der Spruchkörper und die Zuweisung der einzelnen Richter regeln müssen, um sicherzustellen, dass die einzelne Sache gleichsam „blindlings“ aufgrund allgemeiner, vorab festgelegter Merkmale an den entscheidenden Richter gelangt.[84] Dabei steht das verfassungsrechtlich verbürgte Recht auf den gesetzlichen Richter einer Änderung der Zuständigkeit auch für bereits anhängige Verfahren nicht prinzipiell entgegen; die Neuregelung muss jedoch zum einen generell gelten, also außer anhängigen Verfahren auch eine unbestimmte Vielzahl künftiger, gleichartiger Fälle erfassen, und darf zum anderen nicht aus sachwidrigen Gründen getroffen worden sein.[85] Als mit der Garantie des gesetzlichen Richters unvereinbar hat das BVerfG einen Geschäftsverteilungsplan angesehen, der die Zuordnung von Verfahren zu einer Hilfsstrafkammer davon abhängig machte, ob die ursprünglich zuständige Kammer zu einem bestimmten, noch in der Zukunft liegenden Zeitpunkt über die Eröffnung des Hauptverfahrens entschieden hatte.[86] Eine begrenzte Überbesetzung von Kollegialgerichten ist hingegen mit Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG vereinbar, soweit sie zur Gewährleistung einer geordneten Rechtspflege unerlässlich ist; die Grenze des verfassungsrechtlich Zulässigen hat das BVerfG allerdings schon in frühen Entscheidungen als überschritten angesehen, wenn die Überbesetzung dem Spruchkörper eine Rechtsprechung in zwei personell voneinander verschiedenen Sitzgruppen gestattet.[87] Die Plenarentscheidung aus dem Jahr 1997 hat dem die Vorgabe hinzugefügt, dass auch auf der Ebene des überbesetzten Spruchkörpers abstrakt-generelle Regelungen für die Mitwirkung der Richter aufgestellt werden müssen.[88]
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Eine nicht unerhebliche Limitierung der in Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verbürgten Garantie resultiert daraus, dass nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG nicht bereits jede irrtümliche Überschreitung der den Fachgerichten gezogenen Grenzen eine verfassungswidrige Entziehung des gesetzlichen Richters begründet.[89] Vielmehr werden Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsnormen nur dann beanstandet, „wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich [. . .] und offensichtlich unhaltbar“ erscheinen.[90] Bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit einer Regelung des Geschäftsverteilungsplanes geht der Kontrollmaßstab des BVerfG hingegen über eine reine Willkürprüfung hinaus und erfasst stattdessen jede Rechtswidrigkeit.[91] Gleiches gilt für die Prüfung der Frage, ob eine Zuständigkeitsregel eines Geschäftsverteilungsplanes als generell-abstrakte Regelung im Sinne der Garantie des gesetzlichen Richters anzusehen ist.[92] Mit Wirkung zum 13. Dezember 2019 hat der Gesetzgeber ein Vorabentscheidungsverfahren für Besetzungsrügen in erstinstanzlichen Verfahren vor den Land- und Oberlandesgerichten eingeführt, in dem abschließend über die Gerichtsbesetzung entschieden werden soll.[93]
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Seit jeher kontrovers diskutiert wird die Vereinbarkeit sog. „beweglicher Zuständigkeiten“ mit der Garantie aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG.[94] Verschiedene Vorschriften der Strafprozessordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes räumen der Staatsanwaltschaft als Anklagebehörde (§ 152 Abs. 1 StPO) die Möglichkeit ein, eine Strafsache vor einem von mehreren in Betracht kommenden Spruchkörpern anzuklagen, sodass letztlich die Situation entstehen kann, dass zwei Strafsachen, die vergleichbare Vorwürfe zum Gegenstand haben, vor unterschiedlichen Gerichten verhandelt werden. Entsprechende Spielräume sehen insbesondere die Vorschriften der Strafprozessordnung über die örtliche Zuständigkeit (§§ 7 ff. StPO) sowie die §§ 24 Abs. 1 Nr. 2 und 3, 25 Nr. 2, 74 Abs. 1 S. 2, 74a Abs. 2 GVG vor, die für die sachliche Zuständigkeit an die Straferwartung, die besondere Bedeutung des Falles oder Gesichtspunkte des Opferschutzes anknüpfen. Gängige Kriterien, anhand derer die besondere Bedeutung des Falles i.S.d. § 24 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 GVG bestimmt wird, bilden das Ausmaß der Rechtsverletzung und die damit einhergehenden Tatfolgen;[95] daneben soll von Bedeutung sein, dass durch die Tat schwerwiegende öffentliche Interessen berührt sind[96] oder ein besonderes Interesse der Medien und der Öffentlichkeit an einer Sache besteht.[97] Auch die hervorgehobene Stellung des Beschuldigten oder Verletzten in der Gesellschaft soll geeignet sein, eine besondere Bedeutung des Falles im vorerwähnten Sinn zu begründen, wenn dadurch der Unrechtsgehalt der Tat erhöht wird.[98]
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Das BVerfG hat entsprechende Regelungen für zulässig erachtet, „soweit sie unter justizgemäßen Gesichtspunkten generalisier(en) und sachfremden Einflüssen auf das Verfahren vorbeug(en).“[99] Zur Feststellung der Vereinbarkeit mit Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG gelangte das Gericht allerdings nur im Wege der verfassungskonformen Auslegung, der zufolge die in Rede stehenden Zuständigkeitsregeln der Staatsanwaltschaft kein echtes „Wahlrecht“ im Sinne eines gerichtlicher Überprüfung nur eingeschränkt zugänglichen Ermessens, sondern lediglich einen Beurteilungsspielraum einräumen. Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, ausnahmsweise statt beim Amtsgericht bei der Strafkammer anzuklagen, unterliege der vollen gerichtlichen Kontrolle nach § 209 Abs. 1 StPO.[100] Im Schrifttum wird mit guten Gründen bezweifelt, dass mit diesem Versuch einer Einhegung staatsanwaltschaftlicher Diskretionsspielräume eine nennenswerte Stärkung des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG zu entnehmenden Bestimmtheitsgebotes verbunden ist.[101] Überdies wird zu Recht darauf hingewiesen, dass seit dem Ergehen der grundlegenden Senatsentscheidungen in den Jahren 1959 und 1967 die Strafbefugnisse des Amtsgerichts bedeutend ausgeweitet und die Besetzungen der landgerichtlichen Spruchkörper spürbar reduziert wurden, weshalb die Feststellung des Gerichts, niemandem geschehe durch den mit der Anklage vor einem Gericht höherer Ordnung verbundenen Verlust einer Tatsacheninstanz ein Unrecht,[102] an Überzeugungskraft eingebüßt hat (s. dazu auch schon Rn. 9).[103] Berechtigter Kritik sieht sich schließlich vor allem die durch § 24 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 GVG geschaffene Möglichkeit der Staatsanwaltschaft ausgesetzt, „wegen der besonderen Schutzbedürftigkeit von Verletzten der Straftat, die als Zeugen in Betracht kommen“ Anklage beim Landgericht zu erheben. Die Vorschrift nimmt ihren Ausgangspunkt bei einer verfehlten „Opfervermutung“ und gerät damit in Konflikt zu der u.a. in Art. 6 Abs. 2 EMRK verbürgten Unschuldsvermutung.[104] Die Antwort auf die für die Entscheidung der Staatsanwaltschaft maßgebliche Frage, ob eine erneute Vernehmung in der Berufungsinstanz für den Verletzten mit einer besonderen Belastung verbunden wäre (§ 24 Abs. 1 S. 2 GVG), wird sich überdies kaum mit einer dem verfassungsrechtlichen Rang des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG angemessenen Gewissheit prognostizieren lassen.[105]
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Nach Ansicht des BVerfG begegnet es ebenfalls keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass § 354 Abs. 2 StPO dem Revisionsgericht die Möglichkeit einräumt, das Strafverfahren nach Aufhebung eines amts- oder landgerichtlichen Urteils an ein (beliebiges) gleichgeordnetes Gericht desselben Landes zurückzuverweisen.[106] Zur Begründung führt das Gericht eine Reihe von Fallgestaltungen an, die es geboten erscheinen lassen sollen, mit der erneuten Verhandlung nicht das bisherige, sondern ein neues Gericht zu befassen; erwähnt werden neben dem Anschein der Voreingenommenheit der Richter am vorbefassten Gericht auch „eine bestimmte Einstellung der Bevölkerung des Gerichtsortes und ein dadurch bedingter Druck der Öffentlichkeit“.[107] Während die angeführten Gründe im Einzelfall tatsächlich ein Bedürfnis nach der Befassung eines anderen Gerichtes gleicher Ordnung entstehen lassen mögen[108] und der Versuch, einen Katalog von Verweisungsgründen zu formulieren, mit dem sich den Anforderungen aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG besser Rechnung tragen ließe als durch den status quo, auf kaum überwindbare Probleme stoßen dürfte,[109] ist nicht ersichtlich, warum nicht wenigstens die Kriterien für die Auswahl des Ersatzgerichtes einer präziseren gesetzlichen Regelung zugeführt werden.[110] § 354 Abs. 2 StPO ist daher entgegen der Ansicht des BVerfG in seiner jetzigen Form als verfassungswidrig anzusehen.
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Aus Gründen der Prozessökonomie soll schließlich auch die durch das Erste Justizmodernisierungsgesetz[111] in § 354 Abs. 1a StPO normierte Befugnis des Revisionsgerichts, sich gleichsam selbst für zuständig zu erklären und eine eigene Sachentscheidung zu treffen, grundsätzlich mit Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG vereinbar sein.[112] Der Erste Senat des BVerfG hat die Anwendung des § 354 Abs. 1a S. 1 StPO allerdings im Wege der verfassungskonformen Auslegung[113] einigen Bedingungen und Einschränkungen unterworfen: Danach muss dem Revisionsgericht für die Entscheidung nach dieser Vorschrift ein zutreffend ermittelter, vollständiger und aktueller Strafzumessungssachverhalt zur Verfügung stehen.[114] Darüber hinaus hat das Revisionsgericht den Angeklagten auf die aus seiner Sicht für eine Sachentscheidung nach § 354 Abs. 1a S. 1 StPO sprechenden Gründe hinzuweisen und ihm die Gelegenheit zur Stellungnahme im Revisionsverfahren einzuräumen. Ein entsprechender Hinweis soll allerdings entbehrlich sein, wenn angenommen werden kann, dass der Angeklagte – etwa aus den Gründen eines entsprechenden Antrags der Staatsanwaltschaft – Kenntnis von einer im Raum stehenden Strafzumessungsentscheidung des Revisionsgerichts erlangt hat.[115] Verfährt das Revisionsgericht nach § 354 Abs. 1a S. 1 StPO, so muss es seine Entscheidung jedenfalls dann begründen, wenn die für die Strafzumessung relevanten Umstände und deren konkretes Gewicht dem Angeklagten sonst nicht nachvollziehbar wären.[116] Eine Strafzumessungsentscheidung des Revisionsgerichts ist schließlich ausgeschlossen, wenn zugleich eine neue Entscheidung über einen fehlerhaften Schuldspruch erfolgen muss.[117]