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VI. Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit (nemo tenetur se ipsum accusare)

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Der Grundsatz „nemo tenetur se ipsum accusare“ besagt, dass niemand gezwungen werden darf, sich wegen der Begehung einer Straftat (oder Ordnungswidrigkeit) selbst zu belasten oder zu seiner Überführung aktiv beizutragen.[313] Nach herrschender Auffassung bezieht sich der durch den Grundsatz vermittelte Schutz auf jede Form der Selbstbelastung, die Anlass zur Verfolgung einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit geben kann.[314] Der Grundsatz, der in der Strafprozessordnung keine ausdrückliche Normierung erfahren hat und lediglich implizit in den Belehrungspflichten gemäß §§ 136 Abs. 1 S. 2, 243 Abs. 5 S. 1 StPO[315] aufscheint, wird in der Rechtsprechung des BVerfG aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Beschuldigten (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG), dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) dem Fairnessgrundsatz und der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) hergeleitet;[316] der EGMR bezeichnet das Schweigerecht und das Recht, sich nicht selbst zu beschuldigen, als „Kernstück des in Art. 6 EMRK garantierten fairen Verfahrens“.[317] Insbesondere die mit dem Gemeinschuldnerbeschluss des BVerfG aus dem Jahr 1981[318] verbundene „würderechtliche Aufladung“ des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit hat im Schrifttum ein durchaus geteiltes Echo gefunden.[319]

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Eine Herausforderung für den nemo tenetur-Grundsatz stellen zunächst (häufig ihrerseits sanktionsbewehrte) außerstrafrechtliche Auskunftspflichten dar, deren Befolgung für den Auskunftspflichtigen die Gefahr einer Selbstbelastung mit straf- oder ordnungswidrigkeitenrechtlich relevanten Sachverhalten mit sich bringen kann. Entsprechende Pflichten finden sich etwa im Insolvenzrecht (§ 97 Abs. 1 S. 1 InsO), im Umweltrecht (§ 52 Abs. 2 S. 1 BImSchG, § 47 Abs. 3 KrWG, § 101 Abs. 2 WHG, § 21 Abs. 4 S. 3 ChemG),[320] im Steuerrecht (§§ 90, 200 AO)[321] und neuerdings auch im Recht des Behandlungsvertrages (§ 630c Abs. 2 S. 2 BGB). Durch die in Rede stehenden Auskunftspflichten kann die Auskunftsperson in die Konfliktsituation geraten, sich entweder selbst einer strafbaren Handlung zu bezichtigen, durch eine Falschaussage ein neues Delikt zu begehen oder aufgrund ihres Schweigens Zwangsmitteln oder sonstigen Nachteilen ausgesetzt zu werden.[322] Dieses Dilemma hat der Erste Senat des BVerfG für das Verhältnis von Konkurs- (heute: Insolvenz-) und Strafverfahren in dem bereits (vgl. Rn. 56) erwähnten Gemeinschuldnerbeschluss dahingehend aufgelöst, dass der Schuldner zwar zur uneingeschränkten Auskunft über seine Vermögensverhältnisse verpflichtet bleibt, die Verwertung auf diesem Wege erzwungener selbstbelastender Aussagen in einem gegen den Schuldner geführten Strafverfahren jedoch durch ein prozessuales Verwertungsverbot ausgeschlossen sein muss.[323] Der Grundsatz „nemo tenetur se ipsum accusare“ steht mithin nach Ansicht des Senats nicht zwingend der Implementierung von (der Wahrung konkurrierender Belange Dritter oder der Allgemeinheit dienenden) Auskunftspflichten entgegen, deren Befolgung mit der Gefahr der Selbstbelastung verbunden ist, wohl aber der strafprozessualen Verwertung der auf diesem Wege gewonnenen Erkenntnisse gegen den Auskunftspflichtigen. § 97 Abs. 1 S. 3 InsO sieht nunmehr ausdrücklich vor, dass „eine Auskunft, die der Schuldner gemäß seiner Verpflichtung nach Satz 1 erteilt, in einem Strafverfahren oder in einem Verfahren nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten gegen den Schuldner oder einen in § 52 Abs. 1 der Strafprozeßordnung bezeichneten Angehörigen des Schuldners nur mit Zustimmung des Schuldners verwendet werden“ darf.[324] Die vorstehend skizzierte Argumentation wurde in der Folgezeit auch auf das Verhältnis von Besteuerungs- und Strafverfahren übertragen,[325] für das in § 393 AO eine differenzierte Regelung geschaffen wurde.[326] Entgegen der h.M.[327] dürfte sie auch für die im Umweltrecht normierten Pflichten zur Offenlegung von Erkenntnissen aus betrieblicher Eigenüberwachung Geltung beanspruchen, so dass auch insofern von einem Verwertungsverbot hinsichtlich pflichtgemäß offenbarter Informationen auszugehen ist.[328] Soweit schließlich der Behandelnde[329] in § 630c Abs. 2 S. 2 BGB verpflichtet wird, den Patienten auf dessen Nachfrage oder zur Abwendung gesundheitlicher Gefahren über erkennbare Umstände zu informieren, welche die Annahme eines Behandlungsfehlers begründen,[330] verbietet § 630c Abs. 2 S. 3 BGB die Verwendung der pflichtgemäß mitgeteilten Informationen zu Beweiszwecken[331] in einem gegen den Behandelnden oder seinen Angehörigen i.S.d. § 52 Abs. 1 StPO geführten Straf- oder Bußgeldverfahren ohne Zustimmung des Behandelnden.[332]

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Der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit verbietet lediglich die Erzwingung einer aktiven Mitwirkung des Beschuldigten an seiner Überführung, nicht hingegen die Erzwingung einer passiven Duldung von Eingriffen zur Sachverhaltsaufklärung.[333] Dabei kann die Abgrenzung zwischen aktiver Mitwirkung und passiver Duldung bisweilen Probleme bereiten, wie eine Entscheidung des KG zeigt, in der das Gericht die Anbringung von Knebelketten am Handgelenk der Beschuldigten zur Erzwingung eines „normalen Gesichtsausdruckes“ während einer Gegenüberstellung gebilligt hat.[334] Richtigerweise ist hingegen mit Grünwald immer dann, wenn das Verhalten nur durch Einwirkung auf die Entschließungsfreiheit des Beschuldigten – sei es durch Drohungen oder durch die Anwendung von vis compulsiva – erzwungen werden kann, von einem Verstoß gegen den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit auszugehen.[335]

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Der EGMR hat den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit schließlich in jüngerer Zeit auch auf Fälle zur Anwendung gebracht, in denen Beschuldigte durch verdeckt mit den Strafverfolgungsbehörden kooperierende Personen heimlich ausgeforscht und im Rahmen vermeintlich vertraulicher, tatsächlich jedoch vernehmungsähnlicher Befragungen zu selbstbelastenden Äußerungen veranlasst wurden.[336] Nach der Rechtsprechung des EGMR liegt eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK) vor, wenn die Behörden in einem Fall, in dem der Beschuldigte von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht hat, eine Täuschung anwenden, um dem Beschuldigten Geständnisse oder andere belastende Äußerungen zu entlocken, die sie in der Vernehmung nicht erlangen konnten und die so erlangten Informationen als Beweise in den Prozess einführen.[337] Die Konturen dieser Rechtsprechung, die im Schrifttum neben verbreiteter Zustimmung[338] auch Ablehnung[339] erfahren hat, sind allerdings recht unscharf;[340] so hat der EGMR in einer neueren Entscheidung die Verneinung eines Fairnessverstoßes maßgeblich damit begründet, dass der Beschuldigte sich – anders als die Beschwerdeführer in früher entschiedenen Fällen – zum Zeitpunkt der verdeckten Ausforschung nicht in Untersuchungshaft befunden hatte, und dass es ihm frei gestanden habe, mit dem Polizeiinformanten zu sprechen oder das nicht zu tun.[341] Der 1. Strafsenat des BGH hat in einer Entscheidung aus dem Jahr 2018, welche das Mithören eines Arzt-Patienten-Gesprächs durch die Ermittlungsbehörden zum Gegenstand hatte, betont, dass die Verletzung der Aussagefreiheit auch außerhalb von Vernehmungen nach §§ 136, 136a StPO zu einem Beweisverwertungsverbot führen kann.[342]

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Da eine Entwertung des Schweigerechtes drohen würde, wenn der Beschuldigte befürchten müsste, dass sein Schweigen im Rahmen der Beweiswürdigung gegen ihn verwendet werden könnte, ist dies nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung jedenfalls dann ausgeschlossen, wenn der Beschuldigte die Einlassung zur Sache vollständig verweigert hat.[343] Gleiches gilt, wenn der Beschuldigte zunächst schweigt und entlastende Momente erst in einem späteren Verfahrensstadium vorträgt.[344] Lässt sich der Beschuldigte hingegen teilweise zur Sache ein, so macht er sich selbst zum Beweismittel; sein Teilschweigen bildet dann einen negativen Bestandteil seiner Aussage, die in ihrer Gesamtheit der richterlichen Beweiswürdigung unterliegt.[345]

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