Читать книгу Höllentrip - Manuela Martini - Страница 14
Kapitel 10
ОглавлениеEine Wasserspülung lief. Gedämpft drangen durch die geschlossene Tür die Geräusche des Krankenhausbetriebs, der am Sonntag, etwas ruhiger verlief als gewöhnlich. Joanna O’Reilly hätte heute frei gehabt, aber es hielt sie nichts zu Hause. Marc traf sich mit Freunden zum Rugby-Spielen. Er würde erst am späten Nachmittag heimkommen, und wahrscheinlich nur noch zum Fernsehen in der Lage. Sie hatte das alles so satt.
Jetzt saß sie bei dem Jungen, hatte Farben, Pinsel und Papier vor ihm auf dem Tisch ausgebreitet. Noch immer wusste sie nichts Näheres über ihn als dass er mitten auf dem Highway gestanden hatte und beinahe von einem Viehtransporter überfahren worden wäre. Immer wieder musste sie sich ermahnen, ihn nicht zu bedrängen. Der Junge hatte Teile seines Gedächtnisses gelöscht. Er brauchte Zeit – und Vertrauen.
„Ich fahre gerne Auto“, sagte sie auf einmal. Die Augen des Jungen blickten sie für einen Moment wirklich an. Er erinnerte sie an die Kindergesichter auf alten Fotos, die die Ankunft osteuropäischer Emigranten in Australien zeigten. Kinderaugen, die schon zu viel gesehen hatten.
Sie zwang sich zur Entspannung, lehnte sich zurück, streckte die Beine aus. Nicht sie, der Junge entschied, wann er aus seinem inneren Gefängnis ausbrechen würde. Woran konnte er sich überhaupt erinnern? An den Truck? Oder gehörte das auch zu den gelöschten Ereignissen? Und dann, ganz plötzlich geschah etwas mit ihr: Sie spürte ein Ziehen im Bauch, zugleich bemerkte sie bei dem Jungen ein leichtes Zittern der Hände. Seine Gesichtsmuskulatur spannte sich, die Mundpartie zuckte, er blinzelte, begann auf dem Stuhl herumzurutschen. Angst hat dann Macht über den Menschen, wenn er ihr nicht ins Auge schaut. Der Junge musste es schaffen, das Grauen anzusehen, um sich aus dessen Fängen zu befreien. Seine Seele musste so laut schreien, dass er nicht mehr wegsehen sondern hinsehen müsste. Noch immer sagte Joanna nichts. In ihrem eigenen Körper spürte sie die Schmerzen des anderen Körpers. Es bedeutete für sie, dass sie in Kontakt zu dem anderen Menschen trat, dass ihre Energien miteinander schwangen. Auch der Junge musste so etwas gespürt haben. Immer wieder sah er zu ihr, zu den Farben, dem Pinsel - dann drehte er sich zum Fenster.
Hab Geduld, sagte sie sich und wartete schweigend. Das Tropfen des Wasserhahns wirkte allmählich beruhigend. Vom Flur drang ein leichter Essensgeruch herein. Jemand rief nach Dr. Aylett, unten auf der Straße wurden Autotüren auf- und zugeschlagen. Ein Vogel krächzte und eben schallte die Sirene eines Krankenwagens herauf. Hinter dem Fenster dehnte sich ein blauer Himmel aus.
Zwei Stunden später kam sie wieder und versuchte es erneut und auf einmal griff der Junge tatsächlich nach dem Pinsel. Joanna hielt den Atem an. Langsam tauchte er den Pinsel in die schwarze Farbe, begann darin zu rühren, setzte den Pinsel aufs Papier. Seine Hand verkrampfte sich. Die Spitze des Pinsels verharrte auf dem Papier, ein dicker Fleck breitete sich aus. Draußen auf dem Gang näherten sich Schritte, wurden langsamer. Stand jemand vor der Tür, war im Begriff hereinzukommen? Nein, jetzt nicht, hoffte Joanna, jetzt nicht! Der Fleck auf dem Papier wurde immer größer. Doch da entfernten sich die Schritte wieder und Joanna atmete auf.
Der Junge zog den Pinsel übers Papier. Er malte einen langen Strich, unterbrach ihn, setzte im Abstand von etwa einem Zentimeter wieder an, malte einen weiteren Strich. Draußen auf dem Gang war nun nichts mehr zu hören. Der Junge sah sie nicht mehr an, war auf seine Zeichnung konzentriert: Eine dicke, von einer Lücke unterbrochene Linie. Wieder ließ er eine Lücke und malte dann zwei Punkte. Hier ging es nicht um Interpretationen sondern einzig und allein darum, ihn soweit zu bringen, dass er alles malte, was aus seinem Innern herauswollte. Deshalb fragte sie nur ohne mit einer Antwort zu rechnen:
„Aus welchem Material sind die Striche?“
„Aus Metall“, kam es so prompt, dass sie erschrak.
„Dann ist es draußen?“, fragte sie, ohne sich die Aufregung und Überraschung anmerken zu lassen.
„Draußen.“
Joanna betrachtete wieder das Bild. „Und es ist Tag?“
Keine Antwort. Stattdessen fegte er das Bild vom Tisch und griff nach einem neuen Blatt. Er zögerte, ließ seinen Blick über die Farben gleiten und tauchte den Pinsel dann tief und entschieden ins Rot. Heftig rührte er im Farbtopf herum, bis die Farbe schäumte, über den Rand des Topfes lief und den Pinselstiel heraufspritzte. Dann hielt er inne und malte einen langen Strich, den er zu einem länglichen Viereck ergänzte und es ausmalte. Einen Moment lang betrachtete er das rote Rechteck. Dann nahm er einen neuen Pinsel, tauchte ihn ins Weiß. Seine Bewegungen waren kontrollierter und ruhiger geworden. Zu dem roten Rechteck fügte er ein kleineres weißes hinzu. Dann wechselte er erneut die Farbe und malte am rechten Bildrand ein braunes Oval. Mit schrägem Kopf begutachtete er sein Werk. Malte dann auf das braune Oval eine schwarze Zwei. Und noch eine und noch eine. In Grün malte er etwas Längliches. Eine Schlange? Nein, es wurde eine Echse, ein Dinosaurier? Er warf den Pinsel auf den Tisch, dass Farbtröpfchen spritzten und starrte auf das Bild. Eine Sekunde, zwei Sekunden, drei, plötzlich schnappte er sich einen der Pinsel und hatte blitzschnell, bevor Joanna reagieren konnte, das Bild mit wilden Strichen übermalt. Joanna wollte ihn berühren, doch er stieß ihren Arm weg, stürzte zum Bett und zog die Bettdecke über sich.
Noch eine Weile saß sie auf dem Bettrand und versuchte ihn zu beruhigen. Doch er rührte sich nicht mehr. Er hatte seine auftauchende Erinnerung wieder gelöscht. Sie konnte es kaum fassen: Er hatte mit ihr gesprochen.