Читать книгу Höllentrip - Manuela Martini - Страница 4
Prolog
ОглавлениеDick wie Brei ist die Luft. Er zerfließt auf der Straße, die auf dem staubigen Land klebt. Die zähe Hitze erstickt jeden Laut und lähmt jede Regung. Auch der kurze Schatten der Gestalt da mitten auf der Straße bewegt sich nicht.
Charlie Isaacs hält seine beiden schweren Hände am Steuer, der Fuß ruht auf dem Gaspedal. Hinter ihm donnern elf Achsen, zwei Anhänger mit hundertachtzig Rindern auf zwei Stockwerken. Gierig verschlingt der Hundertfünfzig-Tonnen-Truck die Straße, die wie aufgerollte Lakritze über der gegerbten Erde liegt. Im Radio geben sie die Wettervorhersage durch. Die Straße ist frei. Er zählt schon lang nicht mehr, wie oft er diese Strecke schon gefahren ist. Den Balonne-Highway von Charleville oder manchmal auch runterkommend von Blackall nach Brisbane. Und immer wusste er, dass sie zu Hause auf ihn warten würde. Ich liebe dich nicht mehr. Noch das Echo ihres Satzes von heute Morgen übertönt das Autoradio.
Zwei Kängurus, von den Motorhauben unaufhaltsamer Road Trains geprallt, liegen zerschmettert am Straßenrand. Ich liebe dich nicht mehr. Charlies Blick verschleiert sich. Sein ganzes Leben war heute Morgen sinnlos geworden.
Die breiige Luft beginnt zu wabern, die scharfen Blätter der Eukalyptusbäume zischen. Aus der Ferne dringt ein Grollen heran. Wild tanzen die Sandkörner auf dem Asphalt. Der Schatten regt sich noch immer nicht, doch Wind zerrt jetzt an rotem Stoff, schlägt ihn hoch - ein Kinderbauch darunter.
Du verstehst mich nicht. Das hatte sie schon häufiger gesagt. Und er wusste bis heute nicht, was sie damit meinte.
Charlie wirft einen Blick in den Außenrückspiegel, tröstet sich am Anblick der im Fahrtwind flatternden Ohren der braunen Rinderköpfe, die aus den Verschlägen schauen wie Reisende. Arglos, denkt er und verdrängt sein Schuldgefühl. Sie wissen ja nicht, wo die Reise endet, sagt er sich. Zum Glück wissen sie es nicht. Er wischt sich mit dem Ärmel die Tränen von seinem breiten Gesicht.
Die Stille zerbirst in Donnern und Dröhnen. Barsch fegt die Druckwelle die Sandkristalle vom Asphalt, reißt am roten Stoff. Dürre Äste biegen sich. Doch der kurze Schatten bleibt, wo er ist.
In der ersten Sekunde hält Charlie es noch für ein Känguru, dann aber wird es rot und rote Kängurus gibt es nicht. Mit seinen neunzig Kilo Körpergewicht steigt Charlie auf die Bremse, krallt sich ans Lenkrad. Der Schub schleudert ihn zur Windschutzscheibe, der Sicherheitsgurt reißt ihn zurück, nimmt ihm die Luft; kreischend rutscht Gummi über Asphalt, Rinderkörper krachen an metallene Wände, brüllen, Motorgewinde gellen, Bremsen schreien, ein hundertfünfzig Tonnen schweres Geschoss rast auf ein rotes T-Shirt zu. Charlie schließt die Augen.
Als er sie wieder öffnet, ist es totenstill. Der Road Train steht. Drei Meter vor einem Kind in einem roten T-Shirt. Der Junge rührt sich nicht. Seine Kleider sind zerrissen, seine Haut aufgeschürft, seine Augen starren ins Nichts. Charlie schluckt. Die Kehle so trocken, dass die Zunge am Gaumen klebt. Der Junge musste dem Teufel entkommen sein, schießt es ihm durch den Kopf. Er steigt aus.
„Sie kommen, mich holen“, flüstert der Junge.
„Wer?“ Charlie weiß nicht, ob er richtig verstanden hat.
„Sie haben sie eingegraben.“
„Wer?“ Charlie berührt ihn vorsichtig an den schmalen Schultern. Sie sind zerbrechlich wie Vogelknochen. Doch der Junge antwortet nicht mehr.
Es ist Samstag, der vierte November. Hundert Kilometer vor Miles und hundertfünfzig vor Chinchilla.