Читать книгу Das eigene Maß - Margrit Hasselmann - Страница 29

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Von „all you can eat“ bis „all you can netflix“ – unser Ess- und Konsumverhalten wird zwar von vielen individuellen Faktoren bestimmt, aber auch von gesellschaftlichen Entwicklungen.

Unsere moderne Gesellschaft befindet sich in ständiger, immer schnellerer Veränderung: Das Angebot an Lebensmitteln, Produkten, Dienstleistungen und damit verbundenen Möglichkeiten wächst stetig, Digitalisierung und Globalisierung erhöhen die Taktzahl. Innerhalb weniger Jahrzehnte – von der Nachkriegszeit bis heute – hat sich ein Wandel vom Mangel zum Überfluss vollzogen.

Neben der Ernährung zeigen sich Parallelen in anderen Bereichen: Auch bei Konsumgütern, in der Mediennutzung und dem Informationsangebot ist in kurzer Zeit ein Übermaß entstanden, bei dem es schwerfallen kann, mit jeder weiteren Entwicklung Schritt zu halten. Immer wieder müssen wir uns neu damit auseinandersetzen, was wir auf welche Weise nutzen möchten und welches Maß für unser Wohlbefinden förderlich und individuell passend ist.

Fehlen uns diese persönlichen Maßstäbe, ist der Umgang mit dem Angebot oft eher spontan und unreflektiert: vom unkontrollierten Aufnehmen über eine Verweigerungshaltung bis zum Schwanken zwischen den beiden Extremen. Das erinnert an die Erscheinungsbilder von Essstörungen: An Binge Eating mit seinen unkontrollierten Heißhungerattacken, an Anorexie mit ihrer Essensverweigerung oder an Bulimie mit ihren Essanfällen und anschließendem Erbrechen.

Wohl nicht zufällig verweisen Sprachbilder zu Zeitgeist-Phänomenen auf krankhaftes Essverhalten: etwa „Binge Watching“ – also das endlose Konsumieren von Filmen und Serien über Streaming-Dienste – an „Binge Eating“. Oder der Ausdruck „Bulimisches Lernen“ für die Art und Weise, mit der sich beispielsweise Studierende in kürzester Zeit große Mengen Lernstoff „einverleiben“, um ihn punktgenau zur Prüfung wieder von sich zu geben.

Umgekehrt spiegeln reale Essstörungen neben individuellen Konflikten auch gesellschaftliche Phänomene wider, wie es der Psychotherapeut Georg Milzner in Bezug auf seelische Erkrankungen beschreibt:

„Gesellschaftlich relevante Krankheitsbilder lassen erkennen, was im Unbewussten einer Lebensform gärt und arbeitet. Sie verweisen auf die Fehler dieser Lebensform, die von den Betroffenen nicht beachtet werden oder sie in ihrem Handlungsspektrum überfordern.“42

Essstörungen und ihre Erscheinungsbilder können also auch auf problematische Aspekte unseres täglichen Lebens hindeuten, die uns im Hinblick auf unser Essverhalten und dessen gesundheitliche Auswirkungen krank machen können. Wenn inmitten des Überangebots und der individuellen Wahlmöglichkeiten dann ein persönlicher Filter und eigene Auswahlkriterien fehlen, entsteht Überforderung. Welche Auswirkungen das haben kann, zeigt sich auch im Ernährungsbereich mit seinen gegenwärtigen Ausprägungen: Zwischen all den Angeboten, den Informationen und Regeln zur Ernährung, zu diversen Produkten und Lebensstilen kann sich der Einzelne orientieren – unter Umständen aber auch verlieren.

Das eigene Maß

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