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Essen als „Ersatzreligion“

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Während unser Alltag komplexer und fordernder wird, nimmt Einsamkeit auch unter jüngeren Menschen zu. Der Wunsch nach sozialer Identität und Gemeinschaft, nach Einkehr und Sinnhaftigkeit wurde früher oft vom Glauben und einer Gemeinde abgedeckt. Heute bedienen andere Lebensbereiche diese Bedürfnisse. Statt in die Kirche gehen wir vielleicht sonntags ins Yoga-Studio, um Ruhe und Besinnung zu finden. Über einen bestimmten Lebensstil lässt sich Anschluss an eine Community finden. Coaching, Persönlichkeitsentwicklung und Ernährungsberatung können eine Seelsorgefunktion einnehmen. Auf diese Weise bekommen die Bereiche Gesundheit, Sport und Ernährung einen sehr hohen Stellenwert – und können im Extrem zu einer Art „Ersatzreligion“ werden.

Wie sehr gerade das Thema Essen aufgeladen ist und mit moralischen Aspekten überhöht wird, zeigt sich schon in der Sprache: Wenn bestimmte Nahrungsmittel „tabu“ sind, zwischen „gutem“ und „schlechtem“ Essen unterschieden wird, man „in Versuchung“ gerät oder „sündigt“. Beim Übertreten von Ernährungsgeboten entstehen Schuldgefühle, gegen „Völlerei“ und Essanfälle hilft Enthaltsamkeit. Schwierig wird es, wenn die Ernährungsreligion zu einer Art „Fundamentalismus“ führt und Andersdenkende missioniert statt toleriert werden.

Wenn Menschen dafür empfänglich sind, kann der gesundheitliche Aspekt beim Essen für sie zu einer Art Heilsversprechen werden – wer sich möglichst rein und „korrekt“ ernährt, den erwarten Gesundheit, Glück und ein langes Leben. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass ein gesundes und erfülltes Leben von vielen Faktoren abhängt.

Natürlich können ernährungsbedingte Krankheiten über eine andere Ernährung oft positiv beeinflusst oder im besten Fall sogar geheilt werden. Und selbstverständlich ist es sinnvoll, sich mit den Inhalten und Produktionsbedingungen unserer Nahrung auseinanderzusetzen. Allerdings kann sich unter bestimmten Umständen – wie schon zuvor beschrieben – eine übermäßige Beschäftigung mit der Ernährung auch negativ auf die körperliche und seelische Gesundheit auswirken. Aus einer sehr restriktiven Ernährungsform kann sich eine Essstörung entwickeln, wenn sie auf bestimmte Lebensumstände und eine entsprechende Disposition trifft. Ein ohnehin schon problematisches Essverhalten kann sich durch noch so gut gemeinte Ausschlusskriterien und eine entsprechende Ernährungsumstellung verstärken. Insbesondere Menschen, die Gewicht verlieren wollen, sind empfänglich für eine neue Art der Essstörung: die „Orthorexie“, das zwanghaft „richtige“ Essen, worauf wir in Kapitel 5 noch zu sprechen kommen.

Das eigene Maß

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