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Von Fressmeilen & Butterbergen

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Weit mehr als 100 000 Nahrungsmittel werden heute im Markt angeboten – während wir laut Ernährungswissenschaftlern nicht mehr als 100 verschiedene bräuchten, um uns abwechslungsreich und gesund zu ernähren.44 Welche Fülle und Marktmacht die Ernährungsindustrie heute besitzt, zeigt sich auch anhand der Umsatzzahlen: Die Hersteller von Nahrungs-, Futtermitteln und Getränken zählen laut Statistischem Bundesamt mit einem jährlichen Umsatz von rund 185 Milliarden Euro im Jahr 2019 zu den fünf mächtigsten Industrien Deutschlands. Den größten Anteil daran erzielt immer noch der Bereich „Schlachten und Fleischverarbeitung“.45 2019 gaben private Haushalte für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke insgesamt mehr als 180 Milliarden Euro aus.46

Gleichzeitig wird aber fast ein Drittel der Lebensmittel umsonst produziert – so wie die schon erwähnten „Butterberge“, die teilweise vernichtet werden mussten. Eine Studie der Gesellschaft für Konsumforschung aus 2017 ergab, dass in nahezu allen der 7000 befragten Haushalte täglich Lebensmittel im Müll landen.47 Insgesamt bis zu 18 Millionen Tonnen Lebensmittel werden laut einer WWF-Analyse zufolge jährlich in Deutschland verschwendet – 10 Millionen davon wären durch besser geplante Einkäufe, richtige Lagerung und konsequentere Verwendung einzusparen.48

Allein die Privathaushalte kommen auf sechs bis sieben Millionen Tonnen, ergab eine Studie der Uni Stuttgart. Pro Kopf sind das etwa 85 Kilogramm jährlich – was etwa dem durchschnittlichen Gewicht eines erwachsenen Mannes entspricht.49 Niederländische Forscher sahen auch einen Zusammenhang zwischen dem Wohlstand von Verbrauchern und der Menge an weggeworfenem Essen: Die Verschwendung stieg ab einem bestimmten Lebensmittel-Budget schnell an.50 Ein realistisches Maß dafür, was sie benötigen und verarbeiten können, scheint vielen Gesellschaften abhandengekommen zu sein.

Jochen Brühl, Chef der Tafel Deutschland e. V., die überschüssige Lebensmittel sammelt und an Menschen in Not verteilt, fordert daher dazu auf, Mindesthaltbarkeitsdaten nicht als Verfallsdaten zu verstehen. Er wolle „die Menschen ermutigen, wieder auf ihre Sinne zu vertrauen, zu riechen, zu schmecken, einfach zu probieren, ob etwas noch gut ist oder nicht.“51 Eine Orientierung an eigenen Maßstäben, an der eigenen Urteilskraft – statt an einer aufgedruckten Zahl.

Neben der Lebensmittelindustrie verzeichnet auch die Gastronomie steigende Umsätze: 2019 lag ihr Umsatz in Deutschland bei über 61 Milliarden Euro.52 In den Innenstädten hat sie die bisherige Nummer eins, die Bekleidungsgeschäfte, verdrängt. Immer mehr Kaffeeläden, Bäckereien oder Systemgastronomie-Ketten siedeln sich in den Fußgängerzonen an und bilden so genannte „Fressmeilen“. Auf den weiteren Plätzen folgen bei den City-Immobilien Drogeriemärkte, Kosmetikläden und Fitness-Studios.53 Dieser Branchenmix spiegelt damit ziemlich genau das Spannungsfeld wider, in dem sich Konsumentinnen und Konsumenten heute bewegen: zwischen Essen, Schönheit und Gesundheit.

Das eigene Maß

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