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Die zerstückelte Welt

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Wenn du in deinen Gedanken lebst, dann fragmentierst du die Welt. Der Verstand dient dazu, die Welt einzuteilen, aufzuspalten, in Teile zu zerlegen, zu analysieren, zu kategorisieren und die entsprechenden Teile zu etikettieren, zu benennen, einzuordnen und abzulegen. Wie ein Stapel Papier, der abgearbeitet werden muss. Das ist die Natur des unbewussten und auf Autopilot laufenden Verstandes. Er will Schlussfolgerungen ziehen. Und dabei muss er das Erlebte, das, was geschieht und geschehen ist, in seine Bestandteile aufteilen. Dadurch wird der Verstand größer und intelligenter. Du siehst einen Baum und weißt dann ganz genau, wie weit entfernt und wie hoch er ist, wie die Rinde beschaffen ist, welche Form die Blätter haben, in welche Richtung er wächst und wie weit entfernt er vom Nächsten steht. Du hast ihn richtig schön zergliedert und vergleichst ihn mit Bäumen, die du kennst, und kannst ihn dann einordnen. Das ist ein Teil von Kontrolle. Alles, was du erlebst, wird dieser Kontrolle unterzogen. Ist es etwas, das ich schon kenne? Woran erkenne ich es? Wie ist es aufgebaut? Könnte mir etwas davon gefährlich sein? Wenn nein, könnte mir etwas davon nützlich sein? Wie kann ich es benutzen? Was könnte ich daran verändern, um es perfekter zu machen?

Wir schauen immer mit einem kritischen Auge, das das, was es sieht, nach gut oder schlecht, hilfreich oder nicht, schön oder hässlich, zu grün oder zu gelb, passend oder nicht passend bewertet. Nur in Fällen, wo uns etwas so richtig unter die Haut geht, halten wir an und bewundern es. Vielleicht ist es der Anblick von etwas wirklich Schönem, vielleicht erleben wir etwas, das wir in dem Ausmaß noch nie zuvor erlebt haben, vielleicht haben wir eine absolut hinreißende Vision für unser Leben, die uns total begeistert. Doch all diese Momente wirst du nicht in deinem Denken erfahren, sondern als Gefühl in deinem Körper, vermutlich sogar (um es genauer zu sagen) in deiner Herzgegend, im Brustkorb. Für einen kleinen Augenblick bist du eins mit dem, was du betrachtest. Es ist, als wäre der fantastische Ausblick auf die grandiose Natur so gewaltig, dass die Natur durch dich hindurchströmt und du sie in deinem Körper tatsächlich fühlen kannst. Oder die Visionen deiner Zukunft geben dir das Gefühl, die Zukunft wäre bereits eingetroffen und du würdest schon in ihr leben, weil es sich so stark danach anfühlt. Oder du bist so glücklich und verliebt, dass du dich selbst vergisst und das Gefühl hast, eins mit deinem Partner und dem Leben zu sein. In diesen Momenten suchen wir nichts mehr in der Welt. Wir wollen nichts mehr von ihr. Wir sind in Harmonie mit dem, was ist. Wir wollen nichts ändern, nichts anschieben und nichts verstellen, damit es uns besser passt. Wir fließen in das Leben förmlich hinein, wie ein Fluss in den Ozean, bis wir komplett eins mit dem sind, was uns begeistert. Diesen Zustand erleben wir auch, wenn wir uns ganz dem hingeben, was wir tun. Sei es beim Spielen, beim Malen, beim Tanzen, beim Schreiben oder auch beim Sex. Alles, was wir tun, selbst die Schuhe zubinden, kann diese Essenz in sich tragen, wenn wir uns völlig darauf einlassen und uns komplett hingeben. Doch sobald wir unser Ich-Gefühl mit einbringen und die Gedanken das Steuer wieder übernehmen, rückt das Bild dessen, was du betrachtest, wieder aus dir heraus. Jetzt gibt es auf der einen Seite wieder dich und auf der anderen Seite wieder den Schuh, den Berg, die nackte Person in deinem Bett.

Das dient dem Geist unter anderem dazu, sich zu orientieren: Wenn er weiß, wo genau sich was befindet, kann er besser bewusst machen, wo er steht. Das kapselt dich von allem ab und macht dein Leben zu einer leblosen Hülle. Denn im Grunde sind wir alle miteinander verbunden. Allein schon dadurch, dass das, was du über deine Sinne wahrnimmst, du immer nur in dir spüren kannst, hat alles einen Einfluss auf dein Inneres. Betrachten wir die Welt aber rein objektiv, wie ein Chemiker im Labor sich die Moleküle eines Stoffes im Mikroskop anschaut, so sehen wir nicht die ganze Welt, nicht den ganzen Menschen vor uns und auch nicht den ganzen Menschen, der wir sind. Das führt unweigerlich dazu, dass du dich selbst fragmentierst. Du machst dich selbst zum Objekt und teilst dich auf in: »das ist mein Körper, das ist mein Denken, das ist mein Fühlen«. So kannst du dich selbst besser verstehen und einordnen. Du bist nicht mehr eins mit dir selbst, weil dein Denken Puzzleteile aus dir macht und sich selbst etikettiert und einordnet. Das Denken selbst legt weitere Schichten an Denken über sich, bewertet sein Denken, ordnet sein Denken ein und denkt über sein Denken nach. Der Wolf hat ein ganzes Rudel an Wölfen, die alle in deinem Kopf wohnen und dich davon abhalten, zu erkennen, dass du ganz bist, dass du verbunden mit allem bist, dass du nicht vom Leben getrennt bist und dass das Leben und du ein und dasselbe ist. Doch es ist wichtig für den Wolf, diese Welt zu zerstückeln. Erst dadurch, dass es ein Gegenüber gibt, kann der Wolf sich in seiner Individualität erfahren, aus der heraus er überhaupt erst entstehen kann. Denn gäbe es keinen Gegner, kein Gegenüber, kein von dir getrenntes Etwas, dann gäbe es auch nichts, was er beschützen und bewahren müsste. Und somit wäre der Wolf wieder dem Sterben nahe, denn was er beschützen will, indem er diese ganze Maskerade aufbaut, ist nur sich selbst.

Der Schattenwolf in dir

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