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Der aufnehmende Modus

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Du kennst es vielleicht, wie es ist, wenn dir etwas auf der Zunge liegt, aber du dich partout nicht daran erinnern kannst. Du versuchst dich angestrengt daran zu erinnern, verkrampfst, spannst dich an und kannst einfach nicht aufhören, daran zu denken. Es macht dich regelrecht nervös und gereizt. Aber es will dir einfach nicht einfallen. Das ist es, was Konzentration macht: Sie engt deinen Fokus ein, spannt dich an, sorgt für Stress und blendet alles aus, was nicht mit dem Objekt deiner Betrachtung zu tun hat. Es blockiert dich und trennt dich von deiner Lebensfreude. In diesem Tunnelblick nimmst du dein Leben nur noch selektiert wahr und verschließt dich den zahlreichen Wegen und Möglichkeiten, die allesamt existent sind, du aber nicht siehst.

Es gab dazu ein tolles Experiment, welches du garantiert als Video auf YouTube noch finden kannst: Eine Gruppe Menschen sollte sich einen Basketball zuwerfen. Deine Aufgabe als Betrachter dieses Spiels bestand darin, alle Pässe, die sich die Leute zuspielten, zu zählen. Dir durfte keiner entgehen und du musstest ganz genau hinschauen, weil diese Leute sich während des Passens hin und her bewegten. Bei ganz vielen Menschen, einschließlich mir, geschah folgendes: Ich habe natürlich den Ball akribisch verfolgt und konnte am Ende des Videos tatsächlich die genaue Anzahl an Pässen angeben. Ich lag also richtig. Doch was ich nicht wahrnahm war der als Gorilla verkleidete Mensch, der während des Videos zwischen den Menschen hin und her lief. Am Ende wurde ich gefragt, ob ich den Gorilla gesehen hätte, und ich dachte noch, ob die mich verarschen wollten. Was für ein Gorilla? Ich musste das ganze Video noch einmal schauen, um mich zu vergewissern, dass es stimmte. Und siehe da: Da war tatsächlich ein Gorilla die meiste Zeit im Video zu sehen. Aber nicht für mich. Konzentriertes Denken blendet so unglaublich viel aus. Und dennoch glauben wir, alles zu sehen und zu kennen. Der Wolf kann nicht loslassen, weil er meint, nur er könne die Antworten für unser Leben finden, in dem er sich richtig anstrengt. Er sagt, er müsse suchen, weil hier nichts zu finden sei. Dabei ist alles schon da, sobald du bereit bist loszulassen, dich vom Verstand zu trennen und dich auf die Antwort einzuschwingen.

Das Einschwingen gelingt, wenn wir den Ruhemodus aktivieren und aufhören uns ausschließlich gedanklich mit den Objekten unserer Welt (einschließlich uns und unserer Vergangenheit) zu beschäftigen. Wenn wir es üben, den offenen Fokus zu praktizieren, werden wir empfänglich und aufnehmend. Es ist der rezeptive Modus, der es uns erlaubt, offen für das Leben und die darin enthaltene Fülle an Möglichkeiten zu werden. In diesem Modus suchen wir nicht. Wir lassen uns finden. Das klingt für den Wolf sehr inakzeptabel, weil das einen Kontrollverlust darstellt. Aber wenn wir einmal begreifen, dass diese Kontrolle des Wolfes uns eben genau daran hindert, das zu erreichen, wonach der Wolf strebt, ist es mit etwas Übung immer leichter, in dieser Ungewissheit zu schwimmen, die das Loslassen mit sich bringt.

Um die Trennung aufzuheben und innerlich anzukommen, können wir im Außen nichts machen. Wir können die Bäume nicht verrücken, das Wetter nicht bestimmen und die Menschen um uns herum nicht so anpassen, dass sie sich so verhalten, wie wir es gern hätten. Wir können durch die äußere Ordnung nicht die innere herstellen. Wir können nur durch die innere Ordnung die äußere Ordnung erkennen.

Du siehst die Welt nicht, wie sie ist, sondern wie du bist. Veränderst du dich, veränderst du deine Welt.

Es ist immer wieder fantastisch mitzuerleben, wie sich die eigene Wahrnehmung von der gesamten Welt ändert, wenn wir uns im Inneren ändern. All der Trubel, den wir im Außen erleben, sind Rückkopplungen der inneren Unordnung. Es ist so erstaunlich, wie Probleme verschwinden, wie Hektik sich auflöst und Störenfriede dich nicht mehr provozieren, wenn du in dir ruhst. Die Welt ist immer noch die Gleiche wie zuvor, aber für dich ist alles anders. Dieser Zustand ist immer da und abrufbar, sobald du dich darauf einlässt, ihn zu sehen. Da wir aber so sehr mit den Inhalten unseres denkenden Wolfes beschäftigt sind, fehlt uns diese Klarheit. Es ist, als würdest du in ein Wasserglas ständig Sand reinschütten und daran schütteln. Wenn wir aber aus unserem Verstand gehen und in die Gegenwärtigkeit, in das »So-Sein« des jetzigen Augenblickes eintauchen, offen, empfänglich und absichtslos werden, dann kann sich der Sand langsam setzen. Das Wasser wird klarer und das Licht scheint wieder durch. Du kommst in dein Zuhause zurück und machst vielleicht sogar seit Jahren endlich die Fensterläden wieder auf. Das Licht scheint wieder in dein Heim und beleuchtet deine Zimmer.

Dieses Licht scheint nur, wenn du bereit bist, das Leben zu fühlen und die Einheit in dir und nicht in der Welt herzustellen. Der Geist ist ständig im Vorher und im Nachher und nur der Körper ist im Jetzt. Du kannst die Einheit nur herstellen, wenn du auch den Geist ins Jetzt holst und das Fühlen im Körper in den Vordergrund rückst. Der Verstand wird zappeln und sich aufregen, er wird dir Unruhe, Nervosität, Anspannung und auch Langeweile bringen, damit du das nicht tust. Denn es gibt zwei Dinge, vor denen der Verstand Angst hat:

Erstens: Bringst du den Verstand ins Jetzt, hört er auf zu existieren. Zumindest auf die Art und Weise, wie du es gewohnt bist. Dein Denken hört ja niemals auf und das ist auch gut so. Dieses Buch würde sich zum Beispiel niemals schreiben, wenn ich nicht denken würde. Ich nutze mein Denken dafür, die Kapitel und Abschnitte anzulegen und über die sinnvolle Struktur nachzudenken. Aber das Denken hat nicht die Führung. Immer wieder gehe ich in das Gefühl hinein und mache mich leer. Ich lasse strömen, was strömen will, und bringe das Gefühl zum Fließen. Da sich Gefühle aber nicht beschreiben lassen, wenn man keine Worte hat und ich dir nur durch Worte erklären kann, was sich kaum erklären lässt, so ist mein Verstand der dienlichste Übersetzer. Das Gefühl diktiert und der Verstand übersetzt. Das ist eine äußerst effiziente und gewinnbringende Aufteilung. Doch dabei ist der Verstand nicht mehr der, der er einst sein wollte. Er ist weder Chef noch Wolf noch bin ich seine Geisel. Dieser Weg ist immer leichter und lebendiger, wenn ich ihn aus dem Herzen gehe. Doch dafür muss ich mich frei und leer machen. Ich muss jede Absicht, jedes Erreichen-Wollen, jeden Zwang und jede Kontrolle ablegen. Im Prinzip all das, woraus der Wolf besteht. Ich gehe durch meine Angst und die Szenarien, die mir der Wolf liefert, hindurch. Die Angst, zu versagen, nicht fertig zu werden, keinen Sinn zu ergeben, nichts zu nützen, falsch und schlecht zu sein, nicht alles erklärt zu haben und Kritik und Schmach abzubekommen. Ich spüre die Scham, die Ungewissheit und meine Unsicherheit. Mit all diesen Gefühlen wartet der Wolf auf und bringt dazu die passenden Bilder, wie schlecht es wohl für mich ausgehen könnte, wenn ich mich auf den Weg des Herzens einlasse und nicht auf den Wolf höre. Und dabei ist es der Wolf selbst, der diese Gefühle und Angstszenarien erfindet, nur damit ich mich ihm unterordne. Er verspricht mir die Befreiung davon, kann aber nicht anders, als diesen Zustand nur immer wieder selbst zu erschaffen. Die Befreiung davon finde ich, wenn ich mich von mir selbst befreie und den Sand in mir setzen lasse. Dadurch werde ich immer weniger Wolf und mehr eins mit dem Leben. Mein kleines Ich stirbt, um dem großen Ich Platz zu machen. Deswegen fühlt es sich wie sterben an, wenn wir bereit sind, uns selbst loszulassen.

Zweitens: Wenn du den Körper in den Vordergrund rückst, bleibt dir nichts anders übrig, als das zu fühlen, was du da vorfindest. Wenn du zum ersten Mal die Tür in einem Raum öffnest, der lange Zeit verschlossen war, und frische Luft hineinbringen willst, wird zuerst der ganze Muff herauskommen. Du hast dir ein Haus gebaut, doch wohnst jetzt ausschließlich im Dachgeschoss (im Kopf). Und weil du über die Jahre in den unteren Etagen nie wirklich gelüftet hast, ist es dort etwas feucht und modrig geworden und nun schimmelt es etwas. Du müsstest im Keller ein paar Reparaturen vornehmen, aber du traust dich nicht rein. Dieser Muff sind all die Gefühle, die der Wolf erzeugt, um nicht sterben zu müssen. Das Gefühl des Sterbens selbst ist auch ein Teil dieses Muffs. Ebenso findest du dort zahlreiche Gefühle, die du über Jahre unterdrückt und somit hast wachsen lassen. All das will nun gesehen werden. Es ist, als würde der aufgewühlte Sand im Meer sich langsam setzen und nun siehst du die ganzen dunkeln, großen Schatten, die im Wasser herumschwimmen. Für den Wolf sind es alles Haie und Monster, die dein Ende bedeuten können. Deshalb solltest du nicht hinsehen und davor fliehen. Der Verstand ist der beste Ort, davor zu fliehen, weil dieser dich aus dem Moment herausholen und vom Körper abspalten kann. Jetzt musst du nicht mehr diese schrecklichen Gefühle ertragen. Lieber suchst du nun im Außen nach Möglichkeiten, die dich von den Schatten in deinem Inneren befreien. Doch das ist eine Finte. Denn jetzt hat der Verstand wieder die Macht. Und der will nicht befreit werden, weil es ihn dann nicht mehr bräuchte. Es geht immer nur um das Überleben des Wolfes und nicht um deine Befreiung. Und so erkennst du auch, dass die Schatten im Meer nichts weiter sind, als die Gefühle, die der Wolf selbst erzeugt und vor denen er sich nun fürchtet. Die Schatten, die er sieht, sind sein eigener.

Der Schattenwolf in dir

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