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DIE PRÄGUNG
ОглавлениеWieder einmal war es Sonntag. Der junge Mann atmete kurz durch, dann machte er sich auf den Weg. Selbst heute hatte er Unterricht, und zwar auswärts, nicht daheim wie an den anderen Tagen.
Eine anstrengende Woche lag hinter ihm. Tag für Tag war er von 6 Uhr früh bis 9 Uhr abends Sklave eines dichten Stundenplans. Während 32 Unterrichtsstunden wurden ihm Astronomie, Buchhaltung, Tschechisch, Ungarisch, Französisch, Geografie, Tanzen, Fechten, Italienisch, Polnisch, Mathematik, Latein, Griechisch, Jurisprudenz, Turnen und Schwimmen, Naturgeschichte, Philosophie und Technologie beigebracht, dazu noch Religion und jede Menge militärisches Exerzierreglement. Widerwillig musste er auch Musikstunden über sich ergehen lassen. Seit er sechs Jahre alt war wurde er solcherart dressiert, stand von früh bis spät unter der Fuchtel seiner Erzieher Heinrich Bombelles und Major Franz von Hauslab. Bis in kleinste Details hinein wurde er von seiner Umgebung überwacht, sein Tagebuch fleißig gelesen – da war keine Chance auf Freiraum, die kleinste Privatheit. Und dennoch war dieser passive, etwas gedrückte und einsilbige Jüngling mit seinen 17 Jahren bereits Oberst eines Dragonerregiments, wurde von den Freundinnen seiner Mutter scherzhaft »Gottheitel« genannt!
»Das österreichische System«, so schärfte ihm an diesem Wochenende im Jahr 1847 sein prominenter Sonntagslehrer ein, »muss um jeden Preis erhalten bleiben. Nur so ist der Frieden in Europa zu retten!«
Klemens Wenzel Lothar von Metternich, so hieß der 74 Jahre alte Lehrer, wusste wohl, dass mit dem jungen Mann der künftige Kaiser von Österreich vor ihm saß. Denn Metternich selbst hatte als allmächtiger Staatskanzler des Kaiserreiches im Verein mit der vifen Erzherzogin Sophie beschlossen, dass der jugendliche Erzherzog bald dem derzeit waltenden Staatsoberhaupt nachfolgen sollte.
Auf Erzherzog Franz Joseph, dem Neffen des seit 1835 amtierenden Kaisers Ferdinand I., ruhte seit seiner Kindheit die Hoffnung des Hauses Habsburg. Ferdinand, genannt »der Gütige«, galt als krank und geistig minderbemittelt, sein Bruder und logischer Nachfolger Franz Karl als schwach und antriebslos. Und so sollte nun dessen Sohn Franz Joseph neuer Kaiser von Österreich werden. Metternich, seit Jahrzehnten der eigentliche Regent im Land, nahm den jungen Mann ab November 1847 tüchtig in die Mangel und brachte ihm an den Sonntagen bei, wie Staatskunst zu laufen hatte. Vor allem, so sagte der Alte, sei der Kaiser Herrscher von Gottes Gnaden und entgegen aller anderswo in Kauf genommenen Verfassungen und da und dort von den Zeitläuften aufgezwungenen demokratischen Modeerscheinungen der unumschränkte Herr.
Mit des Kaisers Autorität sei nicht zu spaßen, meinte der alte Fuchs und rechnete selbstverständlich sich selbst in diese Autorität mit ein. Denn wer sonst außer ihm, der seit der Zeit Napoleons die habsburgische Politik bestimmte, sollte einen Teenager als Nachwuchskaiser anleiten? Die Sonntagslektionen schweißten Metternich und Franz Joseph zusammen, hier wurde die politische Stafette von Alt zu Jung weitergereicht.
Seine klammheimlichen Zweifel am System verschwieg der Kanzler dem jungen Erzherzog. »Ich bin kein Prophet, und ich weiß nicht, was wird«, sagte Metternich 1847 zum preußischen Diplomaten Graf Guido Usedom, »aber ich bin ein alter Arzt, und kann vorübergehende von tödlichen Krankheiten unterscheiden. An diesen stehen wir jetzt. Wir halten hier fest, solange wir können, aber ich verzweifle fast an dem Ausgang.«
Das bekam Franz Joseph von seinem Sonntagslehrer freilich nicht zu hören. Die Liberalen, so Metternich, »schießen nur die Bresche, über welche die Radikalen in die Festung eindringen … Der irrtümliche Begriff der Nationalität ist gleichbedeutend mit dem Rufe Krieg ohne Ende – von allen gegen alle.«
Franz Joseph lauschte und sog alles auf. Auch wenn Metternichs Lektionen sich nur über wenige Monate erstreckten, so würde der Einfluss des Alten doch lange nachwirken. Geradezu eine halbe Ewigkeit.
Der zweite wichtige Lehrmeister jener Tage war dem jungen Erzherzog der katholische Geistliche Joseph Othmar von Rauscher. Die fromme Mutter Sophie hatte den betont konservativen Mann ausgewählt, weil er zurück hinter die Unterordnung der Kirche unter den Staat wollte, die Kaiser Joseph II. ein halbes Jahrhundert zuvor eingeführt hatte. Rauscher sollte dann später Erzbischof von Wien und danach Kardinal werden, und 1855 das Konkordat, den Staatsvertrag zwischen Österreich und dem Vatikan einfädeln, was den Einfluss der Kirche auf den Staat und seine Menschen entscheidend vergrößerte. Das Bewusstsein für das Gottesgnadentum des Herrschers bekam Franz Joseph auch von ihm gelehrt. Zeitlebens blieb er als Kaiser gegenüber dem Gedanken an eine Teilhabe des Volkes an der Macht skeptisch bis feindselig eingestellt. Nie hätte Franz Joseph eine Krone aus den Händen des Volkes oder seiner Vertreter entgegengenommen, wie es in Frankreich Napoleon III. tat. Vielleicht erklärt das aber auf der anderen Seite auch seine politische Langlebigkeit und Stabilität; ein wie aus der Zeit gefallener Monarch, der nicht um Popularität heischte, konsequent antimodern und antimodernistisch, mochte zeitlos und genau dadurch unsterblich wirken.
Überschätzen darf man die wenigen Lektionen von Metternich und Rauscher allerdings auch nicht, denn viel tiefer als die paar Monate ihres Einflusses saß das militärische Gepräge, das Franz Joseph vor allem von Hauslab erhalten hatte. Von Kindheit an hatte der körperlich robuste Bub große Freude an allem Militärischen. An seinem 13. Geburtstag war er Oberst und Inhaber des Dragonerregiments Nr. 3 geworden und durfte erstmals an einer Jagd teilnehmen. Die Armee und das Waidwerk – beides wurden seine großen Leidenschaften. Auf das Militär verließ er sich als Kaiser besonders, die Armee sollte die wichtigste Stütze seiner Herrschaft werden, was kommende politische Entscheidungen und auch Fehleinschätzungen bis 1914 erklärt; und als passionierter Jäger erlegte er während 66 Ischler Sommern 50 556 Tiere.
Dazu kam noch die alles überwölbende Gestalt seiner dominanten Mutter, die den österreichischen Psychiater Erwin Ringel 1984 zur immer wieder zitierten Herabwürdigung in seinem Buch »Die Österreichische Seele« bewog: »Der Mann wurde schon in der Kindheit durch seine Mutter und die Erziehung vernichtet, hat dann 68 Jahre regiert, hat in dieser überlangen Zeit keine einzige konstruktive Idee gehabt, keine einzige …«
Für des Kaisers Fantasielosigkeit sprächen auch die in zahllosen Büchern und Erzählungen breitgewalzten Eigenschaften wie die pedantische Pflichterfüllung am Schreibtisch ab den frühen Morgenstunden, seine Beratungsresistenz und angebliche Unbelehrbarkeit in politischen wie privaten Angelegenheiten. Entsprang das alles sturem Eigensinn oder konsequenter Geradlinigkeit? Möglicherweise war er auch zu jung, als er die Macht erhielt, und zu alt, als sie ihm der Tod aus der Hand nahm.