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MARKIGE GESCHICHTEN
ОглавлениеSagen wir’s offen und ohne unseren ungarischen Freunden von heute zu nahe treten zu wollen: Der Ungarnsturm saß den Menschen in der östlichen Mark noch lange tief in den Knochen. Sogar in ein weltberühmtes Epos sind sie eingeritten: In den Aventiuren des Nibelungenlieds spiegelt sich nicht nur der Untergang sagenhafter Burgunder am Rhein im 5. Jahrhundert, sondern dort tummeln sich auch die literarisch als Hunnen verkleideten wilden Magyaren, die, wir wissen es bereits, 907 bei Preßburg ein bayerisches Heer vernichteten. Im Buch zum Krieg, der Nibelungensaga, kommt ein Gefolgsmann des Hunnenherrschers vor, dessen Herkunftsort im Herz Ostarrichis liegt: Markgraf Rüdiger von Bechelaren.
Möglicherweise steckt hinter dieser Figur historisch ein gewisser Burkhard, den Otto der Große unmittelbar nach dem Sieg über die Ungarn als Übergangsmarkgraf eingesetzt hat. Fest steht, dass Bechelaren ziemlich sicher nichts anderes als Pöchlarn in Niederösterreich ist, heute stolze »Nibelungenstadt« mit etwas über 4000 Einwohnern.
Des sagenhaften Rüdigers Chef ist der von Hunnenkönig Attila inspirierte Etzel. Wenn man’s genau liest, dann ist dieser Etzel ein recht duldsamer Barbar, denn an seinem heidnischen Hof dürfen auch Christen verkehren. Das alles hat mit dem historischen Hunnenkönig herzlich wenig zu tun, dafür haben die Passauer Dichter des Nibelungenlieds hier wiedergegeben, wie sie die Ungarn um das Jahr 1000 einschätzten, die ihr Bischof Pilgrim für das Christentum gewonnen hat.
Mithin stehen die Magyaren unter ihrem König Stephan nach dessen Taufe im Jahr 1000 in Treue zur christlichen Weltordnung. Die mittelalterliche »triuve« beschreibt die persönliche Bindung der im Lehenssystem miteinander verbundenen Herren und Vasallen. Stephan und sein Volk sind also nun die Vasallen von Gott, dem Herrn, und begnügen sich mit der Pannonischen Tiefebene als Westgrenze ihres Einflussgebiets. Das bedeutet zwar kein Ende der Raufereien, aber einen Stopp der großen magyarischen Westwanderung in unserem Gebiet. Die bajuwarische Mark bleibt die Grenzregion des Reichs.
Friede kehrt dadurch nicht ein, aber wenigstens der dauernde Durchzug ist vorbei. Damit sind alle östlichen Reichsgebiete und ihre Nachbarn, die Königreiche Polen, Böhmen und Ungarn, christlich. Der Marchio orientalis, der Babenberger Markgraf im Osten, herrscht nicht über ein geografisch genau eingrenzbares Territorium, sondern vielmehr über jene Freien und kleinadeligen Grafen, die zu seinen Gerichtstagen kommen oder mit ihm in den Krieg ziehen, wenn er ruft. Dieses Einzugsgebiet ist in historischen Landkarten meistens unscharf eingezeichnet und zeigt einen Farbklecks am Donautal zwischen den Flüssen Enns, Aist, March, Leitha und Thaya und dem nördlichsten Teil des Alpenhauptkamms. Die Achse bildete – einmal mehr – die Donau als Lebensstrom. Südlich davon liegen Kärnten und die Steiermark, die sich autonom als eigene Marken entwickeln.
Der stolze Kärntner Herzog wird in einer Doppelzeremonie nach slawisch-heidnischem Brauch zuerst auf dem sogenannten Fürstenstein, einem alten römischen Säulenrest, zum Herrscher erhoben und kann erst danach nach christlichem Ritus den Herzogsstuhl auf dem Zollfeld besteigen. Kärnten verliert früh seine Südgebiete bis hinunter nach Verona. Auch die Steirer lösen sich aus dem Kärntner Herzogtum und werden nunmehr von der Familie der Traungauer und nach deren Aussterben von nahen Verwandten, den Otakaren, regiert, die letzten sechs Jahre sogar als eigenes von Bayern unabhängiges Herzogtum. Nach dem Tod des kinderlosen Otakar IV. fällt es an die Babenberger – aber dazu kommt es erst 1192; wir sehen uns zunächst einmal an, mit welchen Menschen wir es zu tun haben.
Wer lebt denn da nun überhaupt kurz vor der Jahrtausendwende in Ostarrichi und Umgebung? Gesichert dürfte sein, dass sich in den Städten mit den alten römischen oder keltischen Namen wie Wienne (vormals Vindobona, um 800 althochdeutsch Wenia genannt, ab 1000 schließlich Wien am Fluss Vedunis, also dem Wienfluss), Tulln, Traismauer, Krems, Ybbs und Enns eine Stammbevölkerung über stürmische Zeiten gehalten hat. Westlich der Enns und hinüber bis nach Nordtirol und hinunter nach Südtirol bis Kaltern sitzen romanisierte Kelten, die von ihren germanischen Nachbarn ganz gern als Walsche oder Welsche bezeichnet werden.
Von der Mode der Alpenromanen, so meinte in unseren Tagen der österreichische Historiker Adam Wandruszka, sei auch noch etwas übrig geblieben, nämlich der einfache Wetterfleck, durch dessen Öffnungen man die Arme und den Kopf steckt …
In Vorarlberg leben alemannische und rätoromanische Menschen. Salzburg wird von freien romanischen Bauern bewohnt. Östlich der Enns und im Süden bis Kärnten und Osttirol sind noch ein paar Germanen, doch mehrheitlich Slawen zu Hause – aber es ist ein dünn besiedelter Boden. In diese Lücke stoßen nun die Bayern vor. Ihre Markgrafen, die Babenberger, vergeben Lehen an unternehmungslustige Herren, die den Osten kolonisieren wollen. Diese wiederum schicken eine Flut von deutschen Bauern in das fruchtbare und daher vielversprechende Land. An der Donau entlang kommen sie bis weit in den Osten nach Hainburg und bescheren Wien so schöne bayerische Dorfnamen wie Grinzing, Sievering und Ottakring. Bis 1063 raufen die Babenberger noch mit den Ungarn um Wien und Umgebung, dann steht die Grenze gegen die Ungarn aber einigermaßen fest und die Schwerter werden zu Pflugscharen. Vorerst.
Pfadfinder und Vordenker der Bayern sind katholische Ordensmänner und Mönche wie Benediktiner und Zisterzienser, die als Stützpunkte Klöster gründen und dabei helfen, nördlich der Donau und südwärts bis ins Steirische hinunter Wälder zu roden und neues Land urbar zu machen. So entstehen die Klöster und Abteien Melk, Göttweig, Stift Klosterneuburg, Heiligenkreuz, Rein bei Graz und Zwettl. Die bayerischen Siedlungsunternehmer machen das Deutsche endgültig zur allgemeinen Landessprache und bringen als Lehensherren ein fränkisches Gesellschaftsmodell mit, in dem der Bauer einmal das werden wird, was der Volksmund später einen »Leibeigenen« nennt. Die Bayern riskieren freudig das Abenteuer, in den wilden Osten vorzustoßen, weil sie im Neuland zunächst noch relativ wenige Abgaben und Steuern entrichten müssen. Dafür nehmen sie gern die paar Slawen in Kauf, neben denen sie sich dort ansiedeln und denen sie flugs die deutsche Leitkultur aufbrummen.
Westlich der Enns dagegen sind die Bauern zwar auch nicht unbedingt alle frei, aber etwas reicher und ungebundener. Sie werden künftige Abhängigkeiten nicht so demütig hinnehmen wie die Kolonisten im Osten. Findige Österreichkenner begründen damit den markanten Gegensatz zwischen der angeblichen Untertanenmentalität der Bewohner östlicher Bundesländer und dem herrlichen Selbstbewusstsein alpiner Westösterreicher.
Noch heute verspotten grobe Wiener die Menschen aus dem ländlichen Umland als »Gscherte«, also als jene bäuerischen Unfreien, die ihr Haar nicht lang tragen durften, sondern am Kopf durchwegs kurz geschoren waren. Die so Geschmähten nennen ihrerseits die proletoiden Hauptstädter »gscherte Weaner«. Man kennt sich, man liebt sich …
Das Kolonisieren und Germanisieren dauert jedenfalls ganz schön lang. Bis im 13. Jahrhundert endlich auch die entlegeneren Gebiete bis nach Böhmen und Mähren gerodet und besiedelt sind, machen derweilen die Babenberger Familien- und Reichspolitik.