Читать книгу Franz Josephs Land - Martin Haidinger - Страница 20
WANDERTAG
ОглавлениеIch habe eine gute Nachricht, liebe Leser! Die feierlich ausgerufene Völkerwanderung, anlässlich derer die Barbaren bei uns alles kurz und klein schlugen, hat es so nicht gegeben. Sie ist ein Konstrukt späterer Geschichtsschreiber, um nationale Mythen mit packenden Geschichten von sagenhaften Landnahmen und heldenmütigen Eroberungen ihrer eigenen Völker zu unterfüttern. Vergessen Sie also die alten gemalten Schautafeln aus dem Schulunterricht von anno dazumal, auf denen pausbäckige germanische Rotschopfe blasse Römerlein vermöbeln.
Und weil wir gerade beim Zertrümmern von Mythen sind: Nein, das Weströmische Reich ist nicht an seiner angeblichen Dekadenz zugrunde gegangen und wurde auch nicht von jungen, frischen Barbaren mit Schnauzbärten übernommen. Sonst wäre es dem oströmischen Teil erst recht so ergangen, und der hat noch 1000 Jahre lang als Byzantinisches Reich munter weiter bestanden, inklusive »Dekadenz«; manche sagen auch Hochkultur dazu.
In Wahrheit ging ab dem Ende des 4. Jahrhunderts etwas weiter, was schon länger am Laufen war. Freilich mit voller Wucht, harten Brüchen und wechselnder Besetzungsliste. Aber was sind schon Namen?
Ich werde den Verdacht nicht los, dass in der Rückschau mit Bezeichnungen für Stämme, Verbände und Völker zwar freihändig jongliert wird, die Menschen, die das alles tatsächlich erlebten, einander aber nie: »Na, alter Mitgermane, was gibt’s Neues von der Völkerwanderung?« zugerufen haben. Und schon gar nicht sagte der letzte Westgote zum ersten Ostgoten: »Drängel nicht so!«
Wir machen es uns oft sehr leicht und sehen die satten 500 Jahre der sagenumwobenen Völkerwanderung gerne in einem Zeitraffer im Schnelllauf an, durch den wir die Neuzeit niemals betrachten würden. Denn wer würde heute seine Familiengeschichte schon mit der großzügig bemessenen Anmerkung versehen: Meine Vorfahren wanderten irgendwann so zwischen 1490 bis 2016 ins Land XY ein? Das wäre doch ein wenig unpräzise.
Für den, der mittendrin steckte, gehörten Wanderungen, Anpassungen, Abgrenzungen und Vermischungen zum Alltag. Auch harte Abwehr- und Verteilungskämpfe entlang der Grenzen von Clans, Stämmen und Völkern – übrigens unter Verzicht auf Konsensfindung in basisdemokratischen Diskussionsrunden. Manche Grenzen waren freilich fließend, und ein Germane des 2. Jahrhunderts vor, hatte mit einem Germanen um das Jahr 500 nach Christus nicht mehr viel gemeinsam. Die größten unter den lateinisch »Gentes« genannten Volksverbänden, von denen wir hier sprechen, umfassten mithin nicht mehr als 15 000 Menschen – so viel zur »Überflutung« eines Kontinents.
Gerade die Germanen wurden später neben den Slawen besonders gerne für die Rechtfertigung nationaler Wünsche und ersehnter zukünftiger Größe zurechtgebogen und als Crash-Test-Dummies in allerlei nationale Vehikel gesetzt, die dann im 20. Jahrhundert fatal gegen die Wand fuhren. Mit der Folge, dass sich heutzutage sogar randständige Anhänger der Neuheiden-Bewegung sicherheitshalber lieber Keltensymbole samt Drudenfüßchen um den Hals hängen als germanische Runen zu bemühen – man will ja auch bei Heidens gewöhnlich nicht als Nazi-Spätfolge gelten, außer vielleicht jene, die ausdrücklich darauf Wert legen.
Den echten alten Germanen wird das in ihrer Zeit alles ziemlich wurscht gewesen sein. Sie adoptierten den römischen Way of Life und trugen ihn weiter ins Mittelalter. Die nachgeborenen Chronisten hingegen bedienten sich des antiken römische Autors Tacitus und interpretierten seine Schrift Germania über die Stämme des 1. Jahrhunderts nach Christus als Kitschroman über ein heimatverbundenes Volk, das vom angestammten Siedlungsgebiet freiwillig nie gewichen wäre und später nur unter Zugzwang das alte Rom zerstört hätte. Erst ein gewisser Wolfgang Lazius, Wiener Humanist und Hofgeschichtsschreiber des Habsburgerkaisers Ferdinand I., erfand 1557 für sein Buch Über die Wanderungen einiger Völker die sogenannte »migratio gentium« und mit ihr den angeblichen ur-deutschen Wandertrieb.
Alles nicht wahr.
Tatsache ist dagegen, dass das Donautal eine wichtige Durchzugsroute für viele Stämme, ob Germanen oder nicht, war und blieb. Um 500 erschienen dort die germanischen Langobarden, die bald dem Reiterverband der Awaren weichen mussten. Letztere waren vielleicht Verwandte der Hunnen oder Mongolen und schoben sich nicht nur für etwa 200 Jahre als Keil zwischen das oströmische Reich und die aufkommenden germanischen Franken im Westen, sondern brachten auch Vasallen mit, die unter ihrer Knute standen: die Slawen.
Die Awaren dürften nur eine kleine Oberschicht gewesen sein, weshalb die ursprünglich nördlich der Karpaten wohnenden Slawen in Noricum wohl die eigentliche Basisarbeit erledigten. Ebenso ließ sich von Westen her kaum ein Franke hier blicken, denn diese Westgermanen hatten ihrerseits wieder Vasallen, die sie losschickten, den wilden Osten zu gewinnen: die Bajuwaren, also niemand anderen als die Bayern. Mit ihnen rangelten nun die Slawen in awarischem Auftrag um unser Gebiet, das noch immer nicht Österreich hieß.
Den Slawen gelang es zwischenzeitlich, sich von der awarischen Knechtschaft zu befreien, und sie wählten eigene Könige, allerdings germanische Fachkräfte: im Norden einen Franken namens Samo und in den Alpen, in Karantanien, den Bayern Odilo. Noch einmal zeigten die Awaren, was sie konnten, und eroberten Samos Königreich. Karantanien, also Kärnten, blieb dagegen bayerisch.
Um 780 saßen alle so fest im Sattel, dass die Enns als Grenze zwischen Bayern und Slawen samt Awaren gelten konnte.
Die Bayern behielten die Oberhand, sie waren die kommende Macht. Noch dazu bekamen jetzt im Frankenreich nach den laschen Merowingern die dynamischeren Karolinger das Sagen.
Gemeinsam mit den Bajuwaren trieben die Franken die Awaren hinter die Flüsse Leitha und Fischa zurück. In den frei gewordenen Siedlungsgebieten gründeten die Bayern in fränkischem Auftrag Grenzmarken von der Donau bis zur Adria zur Abwehr neuer Gefahren. Denn von Norden drängte ein großer Slawenblock ins Land: das Großmährische Reich. Und ab dem späten 9. Jahrhundert dann das Reitervolk der Magyaren. Sie besetzten 896 die ungarische Tiefebene und überrollten durch ihre geniale Kampftechnik zunächst das Mährische Reich und dann die bayerische Armee bei Preßburg. Für ein halbes Jahrhundert, also damals immerhin mehr als ein durchschnittliches Menschenalter, musste die bayerische Grenze bis an die Enns zurückgenommen werden. Im Ungarnsturm, der noch lange im Gedächtnis der Menschen blieb, terrorisierten die Magyaren die Gegend des östlichen Noricum, das spätere Niederösterreich, schafften es aber nicht, die Bevölkerung dort gänzlich auszurotten.
Die Rettung blieb nicht aus. Am 10. August 955 schlug die Stunde null. Da besiegte der ostfränkische König Otto I. mit seinen germanischen Truppen die magyarische Armee auf dem Lechfeld bei Augsburg. War das die Geburt der deutschen Nation? Jedenfalls brachte dieser Sieg Otto eine heilige Krone ein, er wurde der erste in einer langen Reihe römisch-deutscher Kaiser. Als Otto der Große ging er in die Geschichtsbücher ein. Das Land östlich der Enns befreite er von den Magyaren und errichtete die Marcha orientalis neu, jene Mark, der sein Sohn und Nachfolger Otto II. 976 einen besonders treuen kaiserlichen Gefolgsmann namens Luitpold als Grafen vorsetzte.
Der wollte ohnehin versöhnt sein, denn ein halbes Jahrhundert zuvor hatte ein Vorfahr von ihm, ein gewisser Graf Adalbert, politisch auf die falsche Karte gesetzt und die im Abgang befindlichen Karolinger gegen die kommenden Kräfte unterstützt. 906 war er auf der Burg Theres am Main hingerichtet worden. Seitdem hatten sich die Nachfahren des Pechvogels besonders ins Zeug gelegt, um bei den Ottonen gute Stimmung zu erzeugen. Das macht sich jetzt bezahlt, Luitpold bekommt die Ostmark – nicht die Welt, aber immerhin. Angeblich stammt sein Geschlecht aus Bamberg; ein echter Babenberger also.