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DIE HALBE EWIGKEIT

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Wie lange dauert eine halbe Ewigkeit? Stellen wir uns einmal vor, nur so als Gedankenexperiment, wir schreiben das Jahr 2014 in Österreich. Das Staatsoberhaupt ist 84 Jahre alt. Nach wie vor trifft der Mann weitreichende Entscheidungen für das Land. An der Macht ist er schon seit 1948. Da war der Zweite Weltkrieg erst drei Jahre vorbei gewesen, Österreich von vier Mächten besetzt, die Lebensmittel rationiert. Überall im Land bestimmten die Trümmer der Bombenkriege das Bild auf den Straßen. Das ist lange her, doch der 84-Jährige entscheidet 66 Jahre danach, 2014, immer noch, über Krieg und Frieden.


Als er nun einem Nachbarland den Krieg erklärt, schöpft er aus einem reichen Erfahrungsschatz. Es tue ihm leid, schreibt er seiner Bevölkerung in einem offenen Brief, dass es so kommen muss, aber die Vorsehung hat es gewollt, dass ein hasserfüllter Feind weiteres Friedenhalten unmöglich macht. So eine Kriegserklärung ist keine leichte Entscheidung, und wahrscheinlich denkt der Greis an die Tage zurück, als er das politische Handwerk gelernt hat, und zwar von einem Mann, der seinerseits im Jahr 1889 politisch erwacht war, als Pferdedroschken durch Straßen rumpelten, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei gegründet und Adolf Hitler geboren wurde.

Können Sie sich das vorstellen? Im Jahr 2014 entscheidet einer über Wohl und Wehe mehrerer Länder, der von einem Charakter des 19. Jahrhunderts erzogen worden ist?

Undenkbar? Skandalös? Nun, versetzen Sie das Ganze um genau 100 Jahre zurück, und sie haben die Geschichte von Metternich, geboren 1773, und Franz Joseph, der im Sommer 1914 in Bad Ischl seinen Namen unter das Kriegsmanifest gegen Serbien setzte und damit den sogenannten Ersten Weltkrieg eröffnete. Diese Daten markieren also das lange 19. Jahrhundert der Revolutionen von Robespierre bis Lenin, der Weltkriege von Napoleon bis Franz Joseph, und die Beteiligten an all dem kannten einander zum Teil eben noch persönlich und wirkten aufeinander ein.

Damit erscheint die Geschichte ziemlich relativ, und zugleich wird auch deutlich, warum wir uns mit Dingen beschäftigen sollen, die so unvorstellbar lange zurückliegen, aber dennoch bis in die Gegenwart hereinragen.

Für den Ersten Weltkrieg, die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, ist das ohnehin unbestritten. Franz Joseph begann ihn, zwar von Beratern angetrieben, doch sehenden Auges, tat so, als sei es ein weiterer Balkankrieg. Er unterschätzte wohl die Gegner und überschätzte ganz sicherlich die österreichische Armee.


Oder doch nicht? »Wenn wir schon zugrunde gehen müssen, dann wenigstens anständig!« soll er gesagt haben. Wenigstens eine Vision …

Dabei hätte der Mann das Zeug zum Friedensnobelpreisträger gehabt, wie die Historikerin Alma Hannig 2014 der Vergessenheit entrissen hat. »Nach reiflicher Überlegung erlaube ich mir, dem geehrten Komitee als Kandidaten für den diesjährigen Nobelpreis abermals den Kaiser von Österreich und König von Ungarn: Franz Joseph I. in Vorschlag zu bringen«, schrieb am 25. Januar 1914 der ungarische Friedensaktivist Ferenc Kemény an das Nobelkomitee in Oslo.

Er war nicht der Erste seiner Art, denn es fanden sich noch zwei Monarchen auf den Listen, deren Reiche bald darauf am Krieg zerschellen sollten: Im Jahr 1901 wurde Zar Nikolaus II. wegen seines Engagements für die Haager Friedenskonferenz 1899 von vier Österreichern, darunter dem international anerkannten Staats- und Völkerrechtler und späteren letzten kaiserlichen Ministerpräsidenten Heinrich Lammasch, nominiert. Auch der deutsche Kaiser Wilhelm II. wurde 1911 vorgeschlagen. Der Habsburger war jedoch der am häufigsten nominierte Herrscher in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg: 1908, 1913 und 1914. Die österreichische Friedensbewegung um Bertha von Suttner pries Franz Joseph als »Friedensfürsten«, da er die Balkankriege durch Verständigung mit Russland nicht in einen »Weltenbrand« hatte ausarten lassen. Die Pazifistin und Autorin von Die Waffen nieder! musste das große Schlachten nicht mehr miterleben – sie starb am 21. Juni 1914, wenige Wochen vor Kriegsausbruch. Und sie sollte recht behalten mit ihrer Prophezeiung: »Der nächste Krieg wird von einer Furchtbarkeit sein wie noch keiner seiner Vorgänger.«

Der alte Kaiser starb mitten im Krieg, am 21. November 1916, mit 86 Jahren. Ein Schlussstrich unter die Ära Franz Joseph ist nach wie vor nicht gezogen, da seine letzte schwerwiegende politische Tat die Welt aus den Angeln gehoben hat.


Der Literat und schärfste Kritiker an den Umständen der Zeit, Karl Kraus, zog 1920 in seiner Zeitschrift Die Fackel ein fast ratloses Resümee:

Wie war er? War er dumm? War er gescheit?

Wie fühlt’ er? Hat es wirklich ihn gefreut?

War er ein Körper? War er nur ein Kleid?

War eine Seele in dem Staatsgewand?

Formte das Land ihn? Formte er das Land?

Wer, der ihn kannte, hat ihn auch gekannt?

Trug ein Gesicht er oder einen Bart?

Von wannen kam er und von welcher Art?

Blieb nichts ihm, nur das Wesen selbst erspart?

War die Figur er oder nur das Bild?

War er so grausam, wie er altersmild?

Zählt’ er Gefallene wie frisches Wild?

Hat er’s erwogen oder frisch gewagt?

Hat er auch sich, nicht nur die Welt geplagt?

Wollt’ er die Handlung oder bloß den Akt?

Wollt’ er den Krieg? Wollt’ eigentlich er nur

Soldaten, und von diesen die Montur,

Von der den Knopf nur? Hat er eine Spur

Von Tod und Liebe und vom Menschenleid?

Nie prägte mächtiger in ihre Zeit

Jemals ihr Bild die Unpersönlichkeit.

Franz Josephs Land

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