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8. Hans
ОглавлениеEs war grausig. Ich musste andauernd meine Tränen zurückhalten. Das war nicht der Hans, den ich kennen gelernt hatte. Er sprach nicht gern über Persönliches, und Gefühle waren ein herrschendes Übel. Neben all seiner Undurchsichtigkeit war er ein knuffiger Kerl. Er war mir in all den Jahren dann doch irgendwann vertraut geworden. So dicht und verschlossen war er dann ja auch nicht. Und wenn die beiden sich mal nicht gestritten hatten und ohne gefletschte Zähne im selben Raum sitzen konnten, war er doch recht amüsant, klug und hatte immer mal einen trockenen wie lustigen Kommentar auf den Lippen.
Ohnehin war er ein Unikum. Der erste Dorfpfarrer – evangelisch – mit einem offenen Jeep, lange Kieler Zigarren waren sein Markenzeichen, die mit dem gelben Mundstück, eine hinter dem Ohr, eine zwischen den Zähnen. Überall lagen diese Dinger herum. Hans ist auch Nachkriegskind und hat eins gelernt. Horten. Hans kaufte nicht eine Schachtel Zigarren, sondern mindestens zehn. Und wenn er noch neun hatte, konnte man ja schon mal wieder zuschlagen, wenn es sich ergab. Er hatte auch nicht eins von diesen alten Notebooks aus der Gründerzeit, nein. Ich fand acht davon in seinem Speicher unter dem Dach.
Alle im Dorf sprachen von ihrem verrückten Pfarrer, der für jeden und alles da war. Viele erinnern sich heute noch an seine geistreichen Predigten, die nicht nur von Gott und der Welt handelten, sondern sich auch um Menschen und Menschlichkeit drehten. Es wäre schon was gewesen, wenn man persönlich angesprochen wurde oder wenn es um Themen ging, die im Dorf passieren, erzählten mir die Leute.
Hans fuhr nie allein mit seinem Jeep und seinen Zigarren. Sein wirklich geliebtes Wesen saß immer mit ihm im offenen Zweisitzer und fuhr mit ihm durch den Ort und die Gegend. Nicht meine Mutter. Nein sein Hund. Erst hieß das Tier zwei Mal Hardi. Der dritte Bernhardiner bekam einen neuen Namen: Berni. Alle drei Hunde hat Hans geliebt, wie den Herrn im Himmel. Er war fast nie ohne seinen Hund unterwegs. Auch zuhause lag das gute Tier immer bei ihm im Büro.
Sein „Büro“ bestand im Pastorat aus zwei Räumen, beide vollgestopft mit für mich immer oberinteressantester Technik. Er hatte einen zwanzig Meter hohen Funkmast im Garten für den guten Empfang und für starke, weit reichende Abstrahlung für seine Funkbatterie. Fünf bis neun Geräte in der Größe früherer Hi-Fi Verstärker standen in unterschiedlichen Konfigurationen beieinander, waren miteinander verbunden, zu meinem Bedauern meistens leider ausgeschaltet. Hier schrieb er seine Predigten und traf sich mit jedem, der etwas von ihm wollte. Optisch jedoch hatten diese beiden Räume jedenfalls nichts mit einem Pastorenbüro zu tun.
Ich löcherte Hans mit bohrenden Fragen nach all seinen kuriosen Geräten wenn ich dort war, nervte ihn jahrelang mit meinem Interesse. Er grinste immer vielsagend hinter seinem Bart, zwinkerte durch seine Brillengläser hindurch und schickte mich freundlich, aber bestimmt weg. Ich solle mich um meine Mutter kümmern, die brauche doch so viel Aufmerksamkeit. Er blieb nie ohne Spitzen gegen meine Mutter, nie ohne Augenzwinkern, das alles entschuldigen sollte.
Manchmal kam er auch von selbst an, stand bei einem Besuch bei meiner Mutter plötzlich in der Tür und winkte mich mit dem Zeigefinger heran, wie die Hexe die hungrigen Kinder. Dann zeigte er mir seine neuesten Errungenschaften, einen GPS-Bluetooth Empfänger beispielsweise, damit das alte MS-DOS Notebook mit der ersten in Deutschland erhältlichen Navigationssoftware doch noch in die Lage kommt, die Satelliten zu empfangen und anzuzeigen wo wir waren! In seinem Büro. Phantastisch!
Bei einer anderen Gelegenheit zeigte er mir ein Handfunkgerät, von denen ich schon immer gern mal eins haben wollte. Ich sollte es anschalten, was ich tat.
„22 an Stütz. Haben Ruhestörung beseitigt, Folgemaßnahmen angekündigt. Familie [Pieeeep] kann sich wieder schlafen legen.“
„11 an 22, habe neuen Einsatz mit Sonderrechten. Fahrt doch mal in die…“
Ein Gerät, mit dem man Polizeifunk abhören konnte! Damit hatte er mich wirklich beeindruckt. Funken kannte ich ohnehin schon, aber Polizeifunk abhören war verboten und dreifach interessant.
Damals im Internat schon hatte ich eine CB-Funke gehabt, die regelhaft in ein Auto gehören würde. Ein amerikanisches Gerät mit einer viel stärkeren, hier nicht zugelassenen Sendeleistung. Für mich in meinem Internatszimmer auf dem Land war es mit diesem verbotenen Gerät jedoch möglich, Distanzen bis zu fünfzehn Kilometer zu überbrücken. Damals ohne Mobilfunk und Handys war das schon cool.
Hans lachte natürlich über fünfzehn Kilometer. Mit seinem Eifelturm im Garten und auf den Profifrequenzen für die Amateurfunker galten natürlich ganz andere Reichweiten.
Ein anderes Mal – es sind wirklich nur ganz wenige wertvolle offene Momente mit Hans gewesen, da schenkte er mir eine Agentenkamera. Eine winzige Minox. Jugendliche heute würden das Teil als MP3 Player ausmachen. Sieben Zentimeter lang, zwei breit, einen Zentimeter hoch, aber dennoch eine vollwertige Kamera. So winzige Technik mit mini Filmkassetten, schweineteuer, aber extrem cool. Mit dem Teil konnte ich echt angeben. Ein großes Geschenk, das er mir ohne jeden Anlass einmal in die Hand drückte. Mit Mini Ledertasche, eher ein Futteral, so winzig.
Sonst aber war Hans für mich meist unzugänglich, verschlossen, zurückgezogen, kurz angebunden oder weg. Harald, mein Bruder, konnte überhaupt nicht mit ihm. Die beiden hatten einfach noch weniger gemein und es gab nur wenig Anlässe, sich zu begegnen, nicht zuletzt weil Harry anfangs in Frankfurt, dann in Brasilien lebte und die beiden sich nur sehr selten trafen. Harrys Ansichten über Hans waren daher immer nur gespeist aus extrem überspitzten und dramaturgisch grandios vorgetragenen Beschreibungen seiner Untaten durch meine Mutter. Dass Hans in vielerlei Hinsicht ebenso machtlos mit Thea leben musste, wie diese mit ihm, interessierte Harry nur wenig. Ich hab’s miterlebt.
Und nun liegt er dort in seinem Bett und redet wirres Zeug, umgibt sich mit einer Auswahl teurer Bücher, die Thea ihm bringen sollte, um zu verschleiern, dass er gerade diese Bücher nicht mehr versteht. Es war so traurig anzusehen.
Meine Mutter hingegen hatte den ersten Schrecken schon lange hinter sich, versuchte bereits, sich mit der neuen Situation abzufinden, war im Alltag angekommen.
„Hans, wenn du nach Hause kommen willst, müssen wir das Haus umbauen.“
„Was, mein Haus umbauen? Warum denn das?“
„Weil du mit deinem Rollstuhl nur in den Flur hinein rollen kannst. Du kommst weder links ins Zimmer noch in die Küche. In dein Büro ganz hinten wird auch kein Rollstuhl passen.“
„Wieso Rollstuhl? Ich brauche keinen Rollstuhl? Bist du aber dusselig. Hier steht doch kein Rollstuhl und ich brauche auch keinen.“
„Hans. Du bist noch halbseitig gelähmt, kannst nicht aufstehen und nicht laufen.“
„Wie bitte? Ich soll nicht laufen können? Warte, ich zeigs dir.“
Nach erfolglosem Versuch aufzustehen grinst er uns an: „Na ja, jetzt geht es gerade nicht so gut. Aber das Essen war doch klasse heute! Und überhaupt: Wie geht es Euch denn so?“
Thea fängt erst an zu streiten, dann beginnt sie zu weinen. Sie halte das irgendwie nicht aus, könne nicht damit umgehen, hinzunehmen, was ist und wie Hans sich verändert hat, erklärte sie mir auf unserem Rückweg.