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15. Theas letzter Brief

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Eine zittrige Handschrift hatte sie, dünn, keinen Druck im Stift. Neben dem „Ärger“ mit Sohn zwei hatte sie ja auch den größten Mörderärger ihres Lebens mit Sigrid und Hans, wollte gerichtlich gegen die unterzeichnete Vollmacht angehen, sich wehren gegen die Ausgrenzung und alle Fiesheiten ihrer notariell bestellten Widersacherin. Wollte sich scheiden lassen.

Einmal war sie sogar mit einem anderen Notar bei ihm im Pflegeheim aufgetaucht und wollte ihn eine zweite neue Verfügung unterschreiben lassen, die, so hoffte sie, die erste Vollmacht nichtig machen würde.

So abwesend war er nicht, wie meine Mutter hoffte.

„Nee, das muss ich doch nicht unterschreiben. Das habe ich schon gemacht. Bei Sigrid. Nehmt doch den Zettel von ihr und kopiert ihn Euch.“

Hans hatte es gemerkt. Der Plan war dahin, der Notar völlig sauer auf meine Mutter, weil er ihr Spiel durchschaute, als er begriff, dass sie ihm ähnlich wenig erzählt hatte, wie Hans auch. Nämlich nichts.

Dennoch hatte sie dann begonnen, sich mit Unterstützung eines Anwaltes gegen die Entmündigung ihres Mannes zur Wehr setzen, die sich nicht unerheblich auf sie selbst in gleicher Weise auswirkte. Ein psychiatrisches Gutachten wurde erstellt, in dem geklärt werden sollte, ob Hans voll zurechnungsfähig war, um eine derart umfängliche Vollmacht zu unterschreiben.


Mit zittriger Schrift schrieb sie also vielleicht den letzten Brief ihres Lebens. An mich.


Mein lieber, lieber Michael, 31.12.2009

oder soll ich dich Ernst Erich nennen, wie früher?

Ich habe eben drei Briefe bekommen, einen von einem Club, der Geld haben will, einen vom Amtsgericht wegen Hans, aber die Anhörung ist erst am 19.01., hat also noch Zeit und endlich bekomme ich ein Lebenszeichen von dir.

Wenn du doch bloß hier wärst, damit ich dich ganz fest in meine Arme nehmen und dir sagen könnte, wie lieb ich dich habe.

Michael, weil ich dich nicht erreichen konnte, habe ich seit einer Woche kaum geschlafen. Nicht, weil ich dich für etwas brauchte, sondern weil ich mir Sorgen um dich mache und fühlte, dass etwas nicht in Ordnung ist. Ich bin entsetzt und verzweifelt, dass du solche Gedanken hast und ich weiß nicht, wie ich uns beiden helfen soll.

Ich weiß nur, dass meine beiden Kinder für mich das Wichtigste auf der Welt sind, und dass ich wahnsinnig stolz darauf bin, was sie aus ihrem Leben gemacht und was sie erreicht haben.

Wahrscheinlich habe ich dir das nicht oft genug gesagt und gezeigt, aber das ändert nichts an der Tatsache. Ich bin stolz auf dich und gebe damit vor anderen auch an.

Doch leider bleibt das Problem, wie ich dir das verständlich machen kann, und wie ich es schaffen soll, dass du mir glaubst.

Ich weiß genau, wie viel du mir geholfen hast, und weil du räumlich näher lebst, habe ich dich wahrscheinlich manches Mal zu sehr belastet und überfordert. Das tut mir leid, aber in Notzeiten schreie ich eben nach dem nächsten und das bist halt du.

Ich danke dir für deinen Einsatz und für die vielen Male, in denen du für mich da warst. Ich weiß nicht, wo ich ohne deine Hilfe heute wäre.

Michael, glaub mir, ich liebe dich ganz doll und ich bin unglücklich, dass ich dich und deine Familie nicht so erreichen kann, wie ich es gerne möchte. Ich habe so viel ungenutzte Liebe, nehmt sie doch bitte an.

Und rein fachlich gesehen: weißt du einen Weg, wie wir uns nicht mehr unbewältigte alte Geschichten vorwerfen und jeder sich in der Opferrolle sieht, sondern dass wir vertrauensvoll miteinander umgehen und kritische Worte nicht als Verurteilung empfinden, eher als Hilfe, etwas zu verarbeiten? Es gibt doch so etwas wie eine „Familienaufstellung“, aber darüber weißt du mehr als ich.

Ich bin zu allem bereit, um ein besseres am liebsten ein gutes Verhältnis zu dir, Euch zu bekommen, denn du bist mir unendlich wichtig und ich liebe dich sehr, auch wenn du das zurzeit nicht glauben kannst.

Morgen ist Jahreswechsel und ich habe Angst, dass wir beide mit so unbewältigten Gefühlen ins neue Jahr gehen, uns nicht anfassen, ansehen, aussprechen können.

Ich fühle mich wie ein Tier im Käfig, eingesperrt in all den ungesagten Worten und möchte doch so viel Liebe geben auch wenn ich nicht weiß, wie.

Und wie sie bei dir ankommt und ob du sie haben willst, weiß ich auch nicht. Michael, du bist ein Teil von mir, ohne dich bin ich unvollständig. Du hast meine Stärken und Schwächen geerbt, und weil wir uns so ähnlich sind, gibt es Reibungsflächen mit Funken, die positiv und negativ sein können.

Im Augenblick sind sie bei dir negativ, obwohl ich nicht weiß, was das ausgelöst hat. Lass es nicht wieder zum Brand kommen, sag lieber gleich, wenn dich etwas stört und du dich durch mich gekränkt fühlst.

Du brauchst auf niemanden eifersüchtig zu sein. Du bist einmalig und das weiß ich auch. Bitte glaube mit, dass ich dich liebe und immer geliebt habe.

Lieber hätte ich mit dir direkt gesprochen, geschriebene Worte sind so nüchtern, aber weil das nicht geht, bekommst du diesen Brief.

Hoffentlich kannst du ihn so verstehen, wie er ehrlich gemeint ist.

Immer noch deine Mutti

Ich heulte, als ich das abends in der toten Wohnung meiner toten Mutter las. Da wäre auf jeden Fall noch was gegangen, wenn sie nicht gestorben wäre. Man hätte vielleicht doch das eine oder andere klären können. Was gut gewesen wäre.

Nicht von der Hand zu weisen war, dass sie nicht eine einzige meiner brennenden Fragen beantwortet hat, sondern lediglich in beruhigenden Floskeln auf eine persönliche Klärung hinwirkte. Wie auch immer, erschien mir der Brief auf jeden Fall versöhnlich und zugewandt, auch sehr schmeichelhaft. Ich entschied mich, ihn so abzuspeichern. Nicht jeder bekommt so einen Brief von seiner Mutter.

Jetzt aber waren wir zwei Brüder mit dieser in jeder Richtung extrem undurchsichtigen Lebenswelt unserer Mutter konfrontiert und sollten gerecht teilen.

Was natürlich nicht klappte. Obwohl es erst danach aussah. Aber das gehörte zum Familienkonzept. Undurchsichtig, nebulös, vorne Hui, hinten Pfui. Vorne freundlich, offen scheinend, hinten taktisches Beobachten, strategische Verteilung von Teilinformationen, vorsichtiges Abfragen des gegenseitigen Informationsstandes.

Hässlich war es. Hässlich ist es immer noch. Viereinhalb Jahre schon blickt unsere Ma von oben auf das Chaos, das sie hinterlassen hat.


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