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1. Zahnlos
ОглавлениеManchmal kommt es wirklich sehr seltsam und unerwartet. Meine Liebste und ich liegen gemütlich auf unserer Couch, genießen die gerade angefangene letzte Urlaubswoche. Reine Erholung nach den hektischen Weihnachtstagen und dem lauten, leuchtenden Jahreswechsel.
Es dauere nur wenige Stunden, bis ich meinen Zahnersatz wiederbekäme, wurde mir von meiner Zahnärztin morgens erklärt, man müsse unterfüttern, da käme ich nicht drum herum. Also ohne Zähne nach Hause, zum Glück niemand bekanntes auf dem Heimweg getroffen und heute bitte keine Termine mehr, bevor ich nicht wieder normal lächeln kann.
Draußen war es bitterkalt, Schnee, Eis, kriechende Autos in der großen Stadt. Es war so kalt, dass der sonst laute Verkehr direkt vor unserem Haus kaum hörbar schien. Der Schnee schluckte alle Geräusche, ein besonderer Klang in der Stadt. Nur das Knirschen der Reifen im Schnee. Bei Sonnenschein betrachtet sieht so eine Schneelandschaft ja toll aus, Bäume mit großen Wattehaufen, alles nett weiß und scheinbar sauber, gebe ich ja zu, schaue ich mir auch gern an, aber die Kälte konnte ich noch nie leiden. Wäre ich ein Tier, dann gern eins, das Winterschlaf hält und die kalte Zeit einfach gemütlich in der Höhle verschläft. Vielleicht liegt das auch daran, dass ich mit vier Monaten mit Scharlach unter Lebensgefahr mit einem Brückenpanzer in der Schneekatasthrophe `62 ans Festland ins Krankenhaus gebracht wurde. Wir waren eingeschneit, und andere Beförderungswege boten sich nicht an. Das war schon schlimm für ein kleines Wurm, das ich war, und kann einem die kalte Jahreszeit schon gehörig vermiesen. Obwohl ich mit fünfzehn Jahren begeistert im Schwarzwald Ski gelaufen bin - und Schlittschuh laufen fand ich auch immer schon klasse. Trotzdem: Winter ist nicht meins und statt Skilaufen verbringe ich meinen Urlaub immer lieber an irgendeinen warmen palmenbesetzten Strand auf einer Insel im Süden.
Also schnell hinein in die warme Wohnung zu meiner Liebsten und gemeinsam vor dem Fernseher auf den Anruf der Praxis warten. So wollte ich niemanden sehen, von niemandem gesehen werden. Ohne Zähne höre ich mich erbärmlich undeutlich an und will das niemandem und mir erst recht nicht zumuten, reden zu müssen.
Wir hatten Sting aufgenommen, eine Übertragung seines Konzertes in einer alten malerischen schottischen Kirche. Wintersongs – bezeichnend, wenn man nach draußen sah. Heißer Kaffee, kuschelige Decke, wir beide – Herrlich.
Ein besonderes Konzert. Anders als man von Sting gewohnt war. Im krassen Gegensatz zu den irre breiten und tiefen Bühnen, auf denen er sonst so auftrat, war es in der Kirche sehr eng. Mit der Perfektion geschulter Ramp Agents auf Flughäfen, die jeden Zentimeter Frachtraum von Flugzeugen ausnutzen, hat man hier ein ganzes Orchester, die Band, Backing Chöre, Schlagzeug, Perkussion mit samt der erforderlichen Geräte, Instrumente und den Musikern hinein operiert.
Wirklich besonders schöne Musik. So gar nicht laut, irgendwie fragil alles, zart, empfindsam, wie Schneeflocken. Offene Harmonien, zusammengesetzt aus vier, fünf, sechs und mehr Tönen, nicht nur stupide Dreiklänge. Hier waren es eher volle, schwebende Klänge durch gemeinsames Spiel, die einem Musiker wie mir besonders in den Ohren schmeicheln. Tonartwechsel, Rhythmen, die mich aufhorchen lassen, weil ich sie noch nicht ganz verstehe, sie nicht gleich mitklopfen und trommeln kann.
Das Telefon klingelt anhaltend, Sven, mein Halbbruder will mit mir reden. Ich will nicht.
Schöne Lieder, glockenzarte winterliche Impressionen, Kamerafahrten durch die schöne alte Kirche, Sting kann wirklich traumhaft singen. Was für eine Vielfalt in seiner Stimme.
Das Telefon klingelt immer wieder – gefühlt Tausendmal. Ich will immer noch nicht, bin sogar langsam genervt über die unpassende Störung.
Nadia ermuntert mich:
„Du kannst ihn doch heute Abend zurückrufen. Was kann schon so wichtig sein.“
„I must have loved you”, singt Sting. Mein Lieblingssong von diesem Konzert. Alles in Blau gehalten, leise, empathisch …
Unser Telefon klingelt schon wieder. Sven, sagt die Anzeige. Nadia geht plötzlich ran, will es jetzt wissen. Ich bin ebenfalls langsam gespannt, was denn derart wichtig sein muss. Nadia lauscht dem Anrufer, ihr Kinn fällt herunter, Geschockt gibt sie mir den Hörer.
„Deine Mutter ist tot.“, sagt sie. Das Konzert war zu Ende.