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6. Neuland

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Gerade erst war sie dort eingezogen. Vor zehn Monaten erst hatte sie die Wohnung gekauft und aufwendig renoviert. Gerade erst das neue Auto finanziert. Und der Hund, der erst seit zwei Monaten bei ihr lebte.

Ein neues Leben sollte ungeachtet des Alters noch einmal beginnen. Zwischen Hans und ihr war nichts mehr zu retten. Die beiden haben sich lange Jahre, fast waren es dreißig geworden, immer wieder zerstritten, immer wieder vertragen. In den letzten beiden Jahren hat sich aber alles so derart verfahren, dass für meine Ma der einzige Schritt gewesen war, sich selbst eine neue Bleibe zu suchen, über Scheidung nachzudenken und aus dem regelmäßigen Flak-Feuer seiner Anwältin zu kommen.

Eine sehr traurige Geschichte mit den beiden. Zunächst die große glückselige Liebe. Nach wenigen Wochen Bekanntschaft gleich geheiratet und zusammengezogen im Pastorensitz, ein schönes großes Haus neben der Kirche. Hier war es meiner Ma dann auch genehm. Sie sagte damals: „Ein Glücksgriff, ich bin nicht mehr die Jüngste. Gottseidank habe ich Hans getroffen und werde nicht alleine alt. Es hätte nicht besser kommen können.“

Auch ich war damals zur Hochzeit eingeladen. Anfang Zwanzig lebte ich frei und unangepasst, wie man in dem Alter so ist und hielt mich augenscheinlich nicht an die geltende Kleiderordnung. Statt im Anzug anzutreten, kam ich langhaarig mit damaliger Freundin in der alten rostigen Ente in weinroten Pumphosen und weitem indischem Folklorehemd an. Meine Oma höre ich heute noch sagen: „Dass er uns das antut!“, bevor wir beide am „Katzentisch“ wie Personal direkt neben der Küche Platz nehmen durften. Ich war heilfroh, nach kurzem Imbiss mit freundlichen Grüßen das Feld zu räumen. Den anderen Gästen und meinen Verwandten ist es vielleicht ebenso gegangen.

Bei all den ewigen Streitereien zwischen ihm und meiner Mutter muss man Hans aber eins definitiv zu Gute halten. Fünfzehn Jahre lang war er derjenige, der zu jeder Tages- und Nachtzeit bei einem Asthmaanfall meiner Mutter zur Seite stand, um ihr große Mengen Kortisonhaltige Medikamente in die Venen zu pumpen. Dies war lange Jahre die einzige Möglichkeit, die mehrmals am Tag auftretende extreme Atemnot meiner Mutter zu behandeln. Egal, wie katastrophal die beidseitige Stimmung war, wenn das Atmen schwer wurde, gab‘s eine kleine Pause für eine Spritze, noch eine weitere, bis das Medikament wirkte, dann ging der Streit meist weiter.

Wann immer ich die beiden besuchte, war ungeachtet besten Wetters, blauen Himmels und ländlicher Idylle meistens dunkle Kriegsstimmung. Hans, meist muffig, zog sich zu seinen Funkgeräten in sein Arbeitszimmer zurück und zu seinen zahlreichen kleinen Gadgets, die er sich immer besorgte, sobald man sie bekommen konnte. Unterschiedlichste Fotokameras, die neuesten UKW Handgurken, wie man sie im Jargon nennt, Handfunkgeräte, Miniaturfernseher, die ersten Laptops, lauter so Sachen, mit denen er sich beschäftigte. Oder seine Funkerkumpel kamen vorbei – sahen so aus, wie die IT-Nerds, die man heute so kennt, und man sprach über wichtige Dinge bis spät in die Nacht. Internet gab es noch nicht wie heute, Verbindungen hatte man durch ein „Mailboxsystem“. Mit einem Vorläufer eines Modems, per Akustikkoppler wurde ein Computer über eine Telefonnummer angerufen und „Daten“ übertragen. Stundenlang piepste die Übertragung leise und am Ende hatte man beispielsweise eine Tabelle über wichtige Funkfrequenzen. Wahnsinnig spannend damals. Heute kalter Kaffee.

Meine Ma hingegen entleibte sich in aller Regel, wie gemein, herzlos und gefühlsarm ihr Mann doch sei, wie schrecklich es doch sei, mit diesem Menschen zusammen leben zu müssen. Auf Hinweise, doch mal über eine Trennung nachzudenken antwortete sie stets, dass sie ja so von ihm abhinge. Die Spritzen könne sie sich nicht allein geben und finanziell würde es ja ohne sein Geld auch nicht klappen.

Hunderte Male erlebte ich derartige Auseinandersetzungen immer nach dem gleichen Schema. Hans brummelte, zog sich zurück, und meine Mutter litt. Sie verbreitete ihre leidvollen Erfahrungen mit Hans auf der gesamten Nordhalbkugel. Jeder sollte erfahren, wie gemein er doch war.

Im Ort, wusste man von der Hassliebe der beiden und gab nichts mehr drauf. Sie hatten natürlich auch Momente, in denen sie sich gut vertrugen. Während ihres einzigen gemeinsamen Urlaubes nach Ägypten waren sie sogar richtig verliebt ineinander.

Nun jedoch überwog die schlechte Stimmung, Streit, Isolation, Abkehr. Auseinandergelebt, starteten sie trotzdem nach Hans‘ Ruhestand noch mal neu durch. Nachdem sie aus dem Pastorat ausziehen mussten, kauften sie ein kleines Haus in Delmenhorst. Ein Traum aus Klinker, mitten im Ortskern direkt neben der Kirche. Sie hatten es sich wirklich gemütlich eingerichtet. Ein großer Garten, tolle Terrasse, einfach schön. Die allgegenwärtige Stimmung war jedoch überwiegend im Keller. Man ging sich aus dem Weg, sprach nur Organisatorisches ab. Jeder lebte für sich. Sie waren gemeinsam einsam. Es gab bereits 2007 erste Überlegungen, wie ein Leben nach einer möglichen Scheidung aussehen könnte. So wie meine Mutter war, hat sie mit jedem menschlichen Wesen darüber ausschweifend diskutiert. Außer mit Hans.

Dann verschlimmerte sich die Lage noch mehr. Erst stürzte Berni, der große Bernhardiner die kleine Stiege im Haus herunter, brach sich verschiedenste Knochen und war nach wochenlangen erfolglosen tierärztlichen Bemühungen nicht mehr zu retten und wurde eingeschläfert.

Kurz danach erlitt Hans einen Schlaganfall, der seine Persönlichkeit eines gebildeten intellektuellen Mannes in die eines etwa vierzehnjährigen Jungen zurückwarf. Hans versuchte anfangs noch, das fehlende Gedächtnis zu kaschieren, nutzte gut klingende Floskeln, um etwas Schlaues zu sagen. Er erkannte nur noch wenige, und an sinnhafte, perspektivische Gespräche war einfach nicht mehr zu denken.

Das war jedoch nur der Anfang einer ziemlich schrecklichen Abfolge von Ereignissen.


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