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3. Mein Vater
ОглавлениеViel hatte ich ja nicht von ihm mitbekommen. Durch meinen pädagogischen Beruf weiß ich jetzt, dass es im Wesentlichen ausgereicht hat, mich hinreichend zu prägen. Er war mein mir vorgesetztes Männerbild, egal ob wir beide das wollten oder nicht.
Als junger Mann war er bei der Bundeswehr. Korrigiere: Bundesmarine. Und da auch nicht einfach so ein Soldat, sondern Fregattenkapitän eines Marinefliegergeschwaders. Noch Fragen? Wegtreten!
Er war schon damals Rudolph der Große, oft tagelang weg, zur Begrüßung überschwänglich gehuldigt. Klar waren wir froh, ihn zu sehen. Aber den Alltagsärger hatte er nicht mit uns, wir nicht mit ihm. Regelmäßig hoher Besuch in schicker Uniform, der gönnerhafte Papa, ein großes Fest, viel Bier, lautes ungehemmtes Lachen der verschiedensten eingeladenen Leute am Abend, aber kaum war er da, musste er auch schon wieder weg.
Später blieb er länger weg, war alles andere als fröhlich, wenn er da war. Nichts mehr mit Feiern, ausgelassener Stimmung mit Gästen, stattdessen immer mehr Streit mit seiner Thea. Wir Kiddies, drei und fünf, waren in diesen unendlichen Auseinandersetzungen Nebensache und nervten allenfalls. Das Ende war oft, dass Vati wieder weg war und Mutti schlecht drauf. Sie telefonierte dann stundenlang mit unserer Oma, schluchzte und heulte am Telefon, versuchte oft erfolglos, uns gegenüber ihre innere Traurigkeit zu verbergen.
Zuletzt kam mein Vater gar nicht mehr wieder. Alle seine Sachen waren weg und wir mussten umziehen. Von der Insel runter in irgendein Dorf.
Die Insel war Heimat. Ich kannte nichts anderes. Strand, Meer und Möwen, deren Geschrei im Gegensatz zu den Wellen nie abebbte. Harald und ich sind immer über die Tetrapoden gesprungen, das sind aus Beton gegossene Gebilde, die vier große Füße in alle Richtungen hatten. Sie waren eingegraben im Dünensand von Westerland. Nur einer der vier Füße ragte nach oben weg, die anderen krallten sich in den Boden und sollten Wellen bei einer Sturmflut brechen. Ich werde es nie vergessen. Harry war schon groß genug, um erfolgreich von Betonspitze zu Betonspitze zu springen. Ich jedoch wollte es ihm nachmachen, hatte aber zu kurze Beine, sprang dementsprechend kürzere Distanzen und fiel immer wieder zwischen die Spitzen und schürfte mir alles auf, was beim Sturz Kontakt mit dem harten Beton bekam.
Trotzdem war das toll – eine super Freizeitbeschäftigung. Später schaffte ich es dann ja auch. Toll waren auch alles Andere, die Insel, der Strand, das Meer, die Gezeiten, Wattwürmer und Dünen, das ganze Leben da, mit beiden Eltern.
Kühren dagegen hatte erst mal nichts Schönes. Keine Promenade, Kein Meer mehr. Nur einen See in vier Kilometer Entfernung. Pohnsdorf, was für ein Name! Und viele Bauern. Überall. Jedes zweite Haus war ein Bauernhof.
Cool dagegen war, dass ich in meiner eigenen Grundschule wohnte. Unten im Haus die Klassenräume, oben Dienstwohnungen für Lehrkräfte, die im Ort unterrichteten. Meine Mutter war eine von ihnen.
Wir waren anfangs wie Geächtete. 1966.
„Eine geschiedene Frau.“ – „Allein.“ - „Mit zwei Kindern.“ - „In unserem Dorf?“ - „Und die soll auch noch hier unterrichten?“
In den ersten Jahren gab es ziemlich schlimmes Gerede im Dorf. Zum Glück war meine Ma eine redegewandte und freundliche Frau, bei den Schülerinnen und Schülern sehr beliebt, und konnte sich und uns im Dorf integrieren. Später gehörten wir dazu.
Vattern, wegen dem wir von „unserer“ Insel mussten, tauchte Jahre nicht mehr auf. Er hatte eine neue Familie, wie es hieß und keine Zeit mehr für uns. Um Unterhalt wollte meine Mutter nicht kämpfen, sie war zu stolz. Sie hat es nie gemacht und er konnte finanziell unbelastet ein neues Leben mit einer neuen Familie starten.
Zwei Mal bekamen wir Besuch von meinem Vater in Kühren. Beim ersten Mal hat er mir als neunjährigem eine Melodika geschenkt. Ein Tasteninstrument, bei dem durch Hineinblasen Harmonika ähnliche Töne entstehen. Damit begann mein Interesse an Musik erneut aufzuflammen. Vorher hatte ich eine Blockflöte wie alle, aber dieses Teil war schon richtig klasse, weil man wie auf einem Klavier auch mehrere Töne gleichzeitig spielen konnte.
Beim zweiten Besuch meines Vaters war ich etwa dreizehn und gerade beim Klauen in Plön erwischt worden. Ich hatte gerade nach meinem Klavierunterricht im Kaufhaus diesen riesigen Schieber-Schlepper mit Anhänger und Zubehör geklaut. Wieder aus dem Laden in Sicherheit packte ich alles aus und bemerkte eine verbogene Achse, die das gesamte Spielzeug unbrauchbar machte. Beim zweiten Versuch einen heilen Schlepper zu „organisieren“ hatte man mich schließlich doch erwischt.
Man rief meine Mutter an. Sie sollte mich abholen. Es kam dann aber mein Vater in den Laden und löste mich aus den Fängen des Ladendetektivs. Am liebsten wäre ich im Boden versunken, weil ich ihn nicht gern unter diesen Umständen nach Jahren wieder traf.
Später, mit vierzehn Jahren, besuchte ich ihn in Geesthacht. Ein schönes großes Haus, viele Zimmer, ein riesiges Wohnzimmer mit Terrasse und Garten, großes Auto, drei Kinder und die neue Frau Heike, die ich sehr mochte. Im Keller seine „Kellerbar“, in der er seine Partys zu feiern pflegte. Ich bin einige Male zu diversen Festivitäten hingefahren. Dann waren alle seine Kollegen da und seine „Nebenfrauen“, wie er seine weiblichen Gäste scherzhaft nannte. Schon früh am Nachmittag knallten die Korken und zischten die Bierflaschen. Spät in der Nacht ging es dann hoch her. Ähnlich wie auf unseren Dorffesten von der Landjugend. Einziger Unterschied war, dass man sich zum Erbrechen und Pinkeln auf die Toilette verzog.
Besonders beeindruckt hat mich damals, wie sehr Menschen an Glanz verlieren, wenn sie betrunken sind. Irgendwas hat mich vielleicht auch an frühere Zeiten erinnert. Vieles von dem, was ich in Geesthacht an Partys erlebt habe, hat mich eher abgestoßen. Und mein Vater mittendrin, grinst, lässt sich feiern und findet sich toll. Ich nicht.
Das einzige Mal, dass ich meinen Vater unsicher und erschüttert erlebte, ich war noch Jugendlicher, war nach dem Tod von Heike nach langem Krebsleiden. Ich war noch nicht 18. So am Boden zerstört kannte ich ihn nicht. Nie. Auch nicht früher, als meine Mutter und er sich so stritten.
Heikes Trauerfeier war ergreifend. In dem Moment, als der Sarg von ihr ins Grab gelassen wurde, öffnete sich die sonst dichte Wolkendecke und ließ einen hellen Sonnenstrahl auf uns scheinen. Sehr besonders.
Als ich Mitte dreißig war, Ende der 90er, kam mein Vater an und sagte, er wolle meinen Bruder und mir jetzt schon unser Erbe auszahlen. Er hatte seine Sandkastenliebe Monika wiedergetroffen, war wieder mit ihr zusammengekommen und lebt nun mit ihr gemeinsam in einem Haus in Bremerhaven. Meine Halbgeschwister aus der zweiten Ehe, sollten wie Harald und ich ausgezahlt werden. Hierdurch wollte er im Falle seines Todes absichern, dass Monika im Haus bleiben könne und sich nicht um Erbstreitigkeiten kümmern müsse.
Unser Vater zahlte meinem Bruder und mir jeweils fünfzehntausend Mark und wir verzichteten auf zukünftige Erbansprüche. Notariell beglaubigt, urkundlich festgehalten. Sven erklärte mir vor einigen Jahren jedenfalls, dass Nele, Lars und er keine Erbteile übertragen bekommen hätten oder aber abgefunden wurden, wie mein Vater uns weismachen wollte. Wir waren draußen, alle anderen drinnen.
Ein weiteres befremdliches Erlebnis hatte ich, als ich bei einem Besuch auf die Familienchronik der Markmanns gestoßen bin. Ein 100 Seiten dicker Wälzer, voll mit Geschichten rund um die Familie, die mein Vater nach der Scheidung von meiner Mutter gründete. Neben all den schwärmerischen, liebevollen Blicken auf seine zweite Familie verlor er über Harald und mich kein Wort. Lediglich meine Mutter fand in wenigstens einem Satz Erwähnung: „Thea war ein Fehltritt, der zum Glück nach wenigen Jahren korrigiert werden konnte.“ So oder ähnlich. Am liebsten hätte ich das Buch verbrannt.
In all den Jahren entwickelte sich leider keine emotionale Bindung mehr, keine Tiefe. Immer blieb es zwischen meinem Vater und mir auf eine gewisse Art oberflächlich und distanziert, eine unüberbrückbare Barriere.
Mein Bruder ist dagegen als Achtzehnjähriger dort hingezogen. Er hatte die Drähte meines Vaters genutzt, um gleichsam seinen Wehrdienst bei der Marine absolvieren zu können und lebte zwei oder drei Jahre im Haushalt meines Vaters. Er lernte auch unsere drei Halbgeschwister besser kennen als ich.
Hier in Bremen hat mich mein Vater auch einmal besucht. Er war in der Nähe und kam einmal tatsächlich hier an. Ich war schon über Vierzig.
Ein großer Teil der Gespräche während seines Besuches drehte sich um den Stadtteil in dem wir lebten. Er war nicht davon abzubringen, seine längst überholten Vorurteile über problematische Brennpunkte zum Besten zu geben, die in Großstädten entstehen.
Ich erinnere dann auch nur schwerlich nette Gesten, angenehmen gegenseitigen Austausch und solche Dinge. Eher fallen mir dann seine Fragen ein wie: „Ja und beruflich bist du ja jetzt hoffentlich auch mal aufgestiegen oder?“, „Kinder- und Jugendnotdienst? So eine Art Kinderheim? Passt du da auf die Kinder auf?“
Auf Kinder aufpassen! Im Leben hatte ich keinen stressigeren Job als dort. 36 traumatisierte Kinder und Jugendliche, drei Gruppen à 12, alle in extrem unklarer Lage. Gewalt und Aggression ohne Ende und höchst anstrengende Schichtdienste. Er erkennt nicht den Wert meiner Arbeit, sieht mich nicht.
Ich hätte entgegnen können, dass er auch nur ein besserer und überbezahlter Busfahrer mit einem extrem teuren Bus ist. Flugkapitän hin, Pilot her.
Er war dann auch schnell wieder weg mit seinem goldenen Mercedes Coupé.
Bedeutsam war auch sein 70. Geburtstag. Standesgemäß wurde Schloss Glücksburg gebucht und alle seine Gefolgschaft, ich war einer davon, und er nebst seiner Monika feierten einen mittelalterlichen Geburtstag im Kellergewölbe mit Geschichtenerzählern, Gauklern und Musikern in alten heruntergekommenen Klamotten neben mittelmäßiger, eher lustlos und automatisiert aufgetragener Verköstigung. Nein, Getränke mussten diesmal nicht selbst übernommen werden, alles war gegeben vom alten Herrn. Die Situation war wirklich grotesk. Mein Bruder Harald kam aus Brasilien, alle drei Kinder aus der zweiten Ehe, Sven mit Petra und Nachkommenschaft, Nele mit Thorsten und Kindern, Lars mit seiner damaligen Partnerin auf der einen Seite, dann die drei Kinder von Monika aus ihrer ersten Ehe mitsamt Kindern und einigen weiteren Freunden kamen zusammen, um den Schöpfer des Ganzen zu feiern, meinen alten Herrn. Er fühlte sich gut, prahlte mit seinen vielen Nachkommen erster und zweiter Generation.
Ich dagegen fühlte mich nicht zugehörig, fremd wie ein Besucher, trank nur Kaffee, habe mich nicht wirklich amüsiert und war froh, als ich wieder auf dem Heimweg war. Zu meiner Familie. Nach Hause.
Schon blöd, wenn man sich nicht zuhause fühlt bei den eigenen Eltern. Wenn alles so fremd ist bei Besuchen, wenn man steif bei denen im Wohnzimmer sitzt, sich nicht anlehnen möchte und zudem Hinweise erhält, wie man die gute Tasse in der Hand zu halten hat und wofür der Henkel ist.
Zuletzt, das war Anfang 2008, schenkte er seinen hiesigen Kindern – Harry war in Ipanema und zu weit weg – eine Dreitageskreuzfahrt von Kiel nach Oslo und zurück.
Ich habe mir tatsächlich gewünscht, in den drei Tagen auf dem Luxusdampfer mal mit ihm in ein persönliches Gespräch zu kommen, mal das eine oder andere an und auszusprechen. Vielleicht auch eine blöde Idee. Es hat ohnehin nicht geklappt. Einerseits habe ich mir vorgenommen, einen geeigneten Moment zu erkennen, in dem es sich vielleicht lohnen könnte, andererseits hatte ich auch nicht den Schneid, ihm zu eröffnen, dass ich Interesse an einem Gespräch unter vier Augen hätte. Ich kann ihm nicht vorwerfen, dass er nicht mit mir reden wollte. Er wusste ja nichts von meinen Vorüberlegungen.
Aber es kam zu nix. Alle Zusammenkünfte während der Fahrt blieben auf schmerzlich oberflächlichem Geplänkel hängen. „Na Michael, Ha, ha, ha, das ist mal ein feines Boot oder? Amüsierst du dich auch? Ja? Schön.“ Eine Antwort war nicht nötig. Er feierte sich, seine super Idee, uns mal die Welt des Luxus zu zeigen und betonte mehrfach, wie großartig er seine Idee fand, uns so was Tolles bieten zu können. (fünf Tickets à Hundertfünfzig Euro) Getränke mussten wir diesmal selbst zahlen.
Eine wirklich blöde Kurzreise. Das Schiff war natürlich beeindruckend. Alles sehr schick, teure Läden, eine „Einkaufsstraße“ an Bord. Vierzehn Ebenen zum Erkunden. Ich war überall, wo man mich nicht sofort wieder weggeschickt hat. Durchgangsverbote, mit einer Kordel versehen, habe ich ignoriert und übersprungen in der Erwartung, noch mehr Interessantes zu entdecken. Zuletzt habe ich mich an Deck zu weit in den Wind über die Reling gehängt. Neptun war offenbar beim Augenarzt gewesen und brauchte eine neue, teure Gleitsichtbrille. Zack, war die meine durch eine plötzliche Windböe in Bruchteilen einer Sekunde von der Nase weg auf dem Weg zur Nase des Königs der Meere.
Wirklich eine blöde Reise. Wir blieben uns fremd. Irgendwie. Aber ich liebe das Meer, Schiffe und die Seefahrt wie er. Und Fliegen ist das Größte. In dem Punkt sind wir beide eins. Uns menschlich nah kommen hatte dagegen keine Chance.