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7. Weiß, weiß, weiß

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Ich versuchte mich auf den dunklen Spurrillen zu halten, bloß nicht auf die vereisten Stellen in der Mitte der Straße oder an den Rändern zu kommen, denn das hieß noch weniger Grip und noch mehr Gefahr. Schön langsam, nur wenige behutsame Lenkbewegungen und bitte auf keinen Fall plötzlich bremsen müssen.

Ich war nur wenige Male in der neuen Wohnung gewesen. Meine Ma war im Frühsommer erst richtig eingezogen. Neue Fenster hatte sie auch noch bekommen und als endlich alles fertig war, zeigte sie allen lieben Leuten um sie herum ihr neues Domizil, war total froh und selig, stolz, den Absprung nach den sich zugespitzten Ereignissen am Ende doch noch geschafft zu haben.

Viele Leute hatten sie unterstützt. Andreas, der allzeitverfügbare Handwerker. Wenn sie nicht warten konnte, bis ich Zeit hatte, und das kam oft vor, rief sie ihn an. Er half wo er konnte und stand ihr seelisch bestimmt oft zur Seite. Sven und Petra, eigentlich gehören die ja zur Familie meines Vaters, wohnten drei Dörfer weiter und waren für sie da. Sie haben sie von A nach B gefahren, ihre Sorgen angehört, sie besucht und eingeladen, ihr beigestanden, wenn es ihr schlecht ging. Dann gab es noch ihre gleichaltrigen Freundinnen und Freunde Hilde, Beate, Klaus, Gregor und wie sie alle heißen. Es beruhigte mich, zu wissen, dass meine Mutter Bekanntschaften hatte und Freundschaften pflegte. Sie hatte immer Termine. Als Pastorenfrau kannte sie ohnehin jeden und jeder sie. Ein sicheres Netz im Ort und eine schicke kleine Eigentumswohnung, die ihr keiner mehr nehmen konnte. Eigentlich ein sehr guter Plan.

Dann verhalf Sven ihr als Rentnerin doch noch zu einem Auto aus seiner Firma über einen Kredit, den sie unter normalen Umständen vielleicht gar nicht mehr bewilligt bekommen hätte.

Im Herbst zog zu guter Letzt auch noch die Hündin Lulu bei ihr ein, die sie über eine Zypernhund Nothilfe vermittelt bekommen hatte. Ein liebes kleines weißes Tier, das richtig gut zu ihr passte, sie körperlich nicht allzu sehr forderte und eine ruhige Seele hatte.

Eigentlich ein wirklich guter Plan.

Geplatzt nach nur wenigen Monaten.

Herzschlag. Gestorben.

Mitten in der Planung ihres Tages. Herausgerissen aus dem Leben, wie man so sagt. Um halb zwölf wollte sie Norbert, ein Bekannter abholen. Er hatte versprochen, sie zum Anwalt zu fahren. Es gab vieles zu besprechen. Einerseits Scheidungsüberlegungen anstellen. Jetzt wo es wirklich keinerlei Gemeinsamkeiten mehr gab. Wo sich die Anwältin Hans‘ bereits einschneidend in alle Dinge der gemeinsamen Ehe eingemischt hatte. Andererseits, um eben Hans‘ Vollmacht anzufechten, die dieser in seinen augenscheinlich letzten wachen Momenten seiner Anwältin unterschrieb. Der Vollmacht gemäß sollte künftig sie sich selbst anstelle meiner Mutter vollumfänglich um alle seine ihn betreffenden Angelegenheiten kümmern. Das hat sie auch getan. Und wo sie war, hinterließ sie eine Schneise aus verbrannter Erde.

Angefangen hatte es wie gewohnt mit einem Streit um Geld, Ausgaben, die ihm plötzlich aufgefallen seien. Nach Hans‘ Schlaganfall hatten Streitigkeiten völlig andere Dimensionen. Hans, nun leider ohne den notwendigen Überblick konstruierte sich aus der akuten Gefühlslage bedrohliche Situationen, fing an zu schreien, tobte und schmiss meine Mutter aus dem Krankenzimmer. Man konnte ihn anfangs wegen eines Bruches in der Hüfte nicht entlassen, später nicht, weil er weder psychisch noch physisch stabil genug war. Hans war durch eine weitere Folge seines Schlaganfalls halbseitig gelähmt und konnte in dem Zustand nicht mit breitem Rollstuhl in das nun viel zu verwinkelte und mit Absätzen und Treppen versehene alte Haus zurück, das er erst vor einigen Jahren gekauft hatte. Hans also fühlte sich plötzlich von meiner Mutter hintergangen, nachdem diese ihm zu erklären versuchte, dass er nicht ohne Weiteres wieder nach Hause kommen könne, und rief Sigrid an. Seine Jugendliebe. Beide hatten damals jemanden anderen geheiratet, waren sich aber in all den Jahren nah geblieben. Hans‘ erste Frau war gestorben. Nach ihrem Tod heirateten Hans und Thea. Sigrid war jetzt Anwältin und Notarin. Sie hatte sich vor Jahren von ihrem Mann getrennt und sollte ihn nun beraten, was er tun könne, um zu verhindern, dass meine Ma sein ganzes Geld ausgäbe.

Auch hätte er davon gehört, dass sie das gemeinsame Haus verkaufen wolle, oder dass er nicht mehr in den ersten Stock dürfe, und sie alles umbauen wolle.

Genau das waren tatsächlich die Gedanken Theas. Ihr war klar, dass eine weitere Nutzung des Hauses mit einem Rollstuhlfahrer unter gegebenen baulichen Voraussetzungen unmöglich war und den Neuerwerb einer behindertengerechten Wohnung oder eines entsprechenden Hauses erforderte, oder aber dass man investieren müsste, umfängliche Umbauarbeiten vornehmen lassen müsste, damit beide weiterhin in Delmenhorst bleiben könnten. Kein Gedanke von Eigennutz oder Bereicherung.

Hans mit seinem nun sehr angeschlagenen Nervenkostüm erkannte Unbill, Verrat, Täuschung und Gefahr über sein Hab und Gut. Sigrid, die schlaue Anwältin und Verflossene erkannte ihre Chance, sich nun umfänglich um ihren damaligen Geliebten und seine Angelegenheiten kümmern zu können. Sie entwarf kurzerhand eine Vollmacht, die Hans wie auch meine Mutter aller Rechte beraubte. Ein hingekritzelter Zettel, der nun fortan sie selbst als rechtmäßige Betreuerin und Vormünderin einsetzte.

Das Grauen begann insbesondere für meine Mutter, als dass sie alle Kontovollmachten verlor und nicht mehr an das gemeinsame Geld herankam. Sie war fortan immer gezwungen, bei Sigrid um dieses und jenes betteln zu müssen, dessen genaue Verwendung zu erklären, hoffend, nun die Anschaffung machen zu können, das Geld dafür zu bekommen und sei es nur für Lebensmittel.

In der Folgezeit kristallisierte sich heraus, dass meine Mutter immer weniger zu sagen hatte, Sigrid dagegen mehr und mehr. Unvorstellbar für mich, jemand Fremden dabei zusehen zu müssen, wie dieser Entscheidungen fällt, die ursprünglich meine oder unsere ehelichen Angelegenheiten waren. Überall mischte sie sich ein, alle Entscheidungen wurden nicht mehr zwischen Hans und Thea geklärt, sondern zwischen Thea und ihrer Widersacherin. Der Frau, deren Fotos sie abhängen musste, als sie damals bei Hans einzog.

Hans kam direkt aus dem Krankenhaus in die Reha, danach in ein Pflegeheim, da ausgeschlossen war, dass er in seinem Zustand wieder im Haus in Delmenhorst leben kann. Das Heim lag in der Nähe und Thea konnte so fast täglich hin, um nach ihm zu sehen.

An einem Besuchstag im Neerstedter Krankenhaus begleitete ich meine Mutter. Sah ihn das erste Mal nach seinem Schlaganfall mit seiner so umfänglich veränderten Persönlichkeit. Er erkannte mich zwar, jedoch war es unmöglich, mit ihm mehr als zwei inhaltlich zusammenhängende Sätze auszutauschen, ehe er sprunghaft und gutgelaunt ein völlig anderes Thema begann. Hans war wie ein leicht aufgeladener, schnell zu begeisternder und affektiver Jugendlicher. Anfänglich versuchte er ernst und klar zu bleiben, aber nach wenigen Momenten gingen ihm die Details verloren und er begann fröhlich eine neue Geschichte.


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