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16. Harald

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Zwei Tage später kam er. Ich sollte ihn vom Flughafen in Bremen abholen.

„Michael! Tu mir einen Gefallen! Geh nicht in Theas Wohnung, bevor ich da bin!“

Mehrmals hatte er es gesagt, während wir telefonierten. Was mich von Anfang an sehr misstrauisch machte. Was gab es, das ich, das wir, nicht ohne ihn sehen dürften? Sollten wir etwa bestimmte Unterlagen nicht vor ihm finden? Gab es etwas zu verheimlichen?

Nichts hätte mich davon abhalten können, jetzt und sofort in die Wohnung unserer Mutter zu gehen was wir ja auch taten. Wir fanden jedoch nichts. Nichts außer dem 120.000 Euro schweren Kontoauszug aus dem Jahr 2006, einem der Anlässe für meinen bitterbösen Brief an meine Mutter.

Immer noch fehlten diverse Gegenstände meiner Mutter, mindestens ein Portemonnaie oder der Autoschlüssel hätten irgendwo herumliegen müssen. Die vielen Telefonate mit Polizei, Arzt, Bestattungsunternehmen, Freunde und Bekannte sollten auch informiert werden, lenkten mich erfolgreich davon ab, diese Ungereimtheit weiter zu verfolgen. Es stand auf der Liste der zu erledigenden Aufgaben zunächst ganz unten.

Am Flugplatz fielen wir uns in die Arme. Mein Bruder. Wir hatten gleiches Leid, was uns sehr verband. Wir heulten gemeinsam, blickten uns gegenseitig mit geröteten Augen immer wieder fassungslos an. Unsere Mutter ist nicht mehr da.

Nie mehr.


Harry war im Frühjahr 1959 geboren, ich im Herbst 1961. Erst nachdem meine Ma verstorben war, erfuhr ich, dass sie nach meiner Geburt einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen ließ. In Wirklichkeit wären wir also drei gewesen. Später bei der Trauerfeier erfuhr ich von meiner Tante, dass ich das „Wieder-gut-mach-Baby“ war. In meiner Geburt lag die Hoffnung, die schon sehr angespannte Ehe wieder zu retten, ihr wieder Leben einzuhauchen. Eine große Verantwortung. Offenbar habe ich versagt, müsste man spätestens nach dem Umzug nach Kühren gedacht haben. Schließlich war definitiv alles vergeigt und der Vater weg. Nichts von hoffnungsvoller Versöhnung und wieder aufflammender Liebe. Natürlich kein Lebensraum für einen weiteren kleinen Bruder oder Schwester.

Harry war genau die zweieinhalb Jahre älter, um bei jeder Auseinandersetzung am Ende recht zu bekommen. Zuletzt gab es für mich immer den nötigen körperlichen Nachdruck, der weitere Diskussionen erübrigte.

Kurz: am Ende bekam ich auf den Kopf, bis ich heulte und er sich nahm, was er wollte.

Trotzdem war er mein großer Bruder und der, nach dem ich mich mangels Alternativen orientierte. Ich hatte die schlechteren Karten, wenn wir uns stritten. Aber als zweitgeborener genießt man selbstverständlich auch alle durch den großen Bruder erreichten Erlaubnisse und Vergünstigungen bei den Erwachsenen. Alles, was sie Harry nach seinen Kämpfen erlaubte, wollte ich auch und bekam es auch. Meistens. Das war schon klasse.

Gemeinsam sich nicht an Regeln und Abmachungen halten. Unser Lieblingsspiel. Klasse, wenn Muttern abends verabredet und weg war. Unser Spectra Nordmende Farbfernseher beispielsweise hatte einen Plastikschlüssel im Netzschalter stecken. Zog man ihn ab, konnte man das Gerät nicht mehr anschalten. Dachte meine Mutter. Dachten alle Erwachsenen.

Harry und ich bastelten uns schelmisch grinsend im unbeobachteten Moment ein Pendant dieses „Schlüssels“ aus Pappe nach und genossen bunte Medien wann immer es sich anbot. Es war toll, mit meinem Bruder Geheimnisse zu haben. We against the world. Don’t need no education. Gemeinsam verschworen verband es uns enorm, unsere Mutter lange, lange in dem Glauben zu lassen, dass das Fehlen dieses Stückes Plastik am Fernseher uns pädagogisch sinnvoll und effektiv davon abhielt, vor der Glotze zu verblöden, wenn sie nicht da war. Eine schöne Zeit mit Harald.

Auch als er gemeinsam mit mir durchs Dorf lief und Roboter spielte. Ich zehn, er zwölf. Die Kiddies glotzten blöd, als er mit blecherner Stimme und abgebrochenen Worten beeindruckte, sich zackig in Bewegung setzte und gemeinsam mit mir davon wankte. Ein großer Spaß im kleinen Dorf.

Wir waren aber altersgemäß auch weit genug auseinander, um jeder für sich eigene Kreise aufzubauen. Er hatte schon was mit seiner Beate aus der Konfirmandengruppe und ich spielte noch mit Autos im Sand.

Immer bestand eine latente Rivalität zwischen uns. Mal mehr, mal weniger. Beispielsweise beim Raviolis teilen. Zeitweise zählten wir die einzelnen Nudeln ab, damit bloß niemand mehr bekomme als der andere. Ebenso wurde auch die Tomatensoße löffelweise verteilt. Natürlich war Harry der, der die Ration verteilte und es gab nicht selten Geschrei und großen Ärger.

„Eine für mich, eine für dich, zwei für mich, eine für dich, drei für mich, eine für dich…“

„Muuuttiii, Harry ärgert mich!“

Mein Trick bei Tütensuppen, war, diese derart zu verwürzen, dass sie Harry nicht mehr schmeckten und ich endlich mal nichts abgeben musste. Es war in dieser Hinsicht schon ein Kreuz. Vergleiche ich das mit den Lebensumständen, unter denen mein eigener Sohn aufwuchs, ein Einzelkind, quasi im Paradies ohne ständig auf der Hut sein zu müssen. Der erzählt mir jedoch heute mit 28 Jahren, dass es auch manchmal quälend langweilig war, allein mit den Eltern. Glaube ich ihm.

Harry und mir dagegen, den beiden feixenden Fratzen hatte der Nachbar verboten, Äpfel seines Baumes zu pflücken. Uns beiden bereitete es daraufhin einen Heidenspaß, die Äpfel am Baum abzukauen. Schließlich hatte er das Pflücken verboten. Das haben wir auch nicht, lachten wir uns an.

Einmal hielt Harry mir einen kleinen Regenwurm vor die Nase.

„Wenn du den isst und herunterschluckst, bekommst du zwei Mark.“

Blöd, wie ich war, schluckte ich das Tier herunter und hielt die Hand auf.

„Nee, kriegst du doch nicht, habe dich verarscht, hahaha.“

Was für ein Bombenscherz. Ich erinnere mich heute noch daran.


Ein anderes Mal stritten wir uns über irgendeine Banalität und ich trat verärgert gegen den Reifen seines Mofas. Daraufhin explodierte Harry förmlich und zerlegte mein Fahrrad in seine Einzelteile. Die Felgen um 80° geknickt, Lenker kaputt, Sattel ab. Mit dem Schrotthaufen fuhr ich nie wieder. Ich versuchte nicht einmal, das Rad zu reparieren. Seit dem Tag fuhr ich mit seinem motorisierten Gefährt wann immer er es nicht merken konnte. Ich besorgte mir einen heimlichen Zweitschlüssel, hatte einen eigenen Helm im Versteck. Ich hatte ihn quasi unwissend enteignet. Er hingegen dachte, dass ich ohne Schlüssel für das Lenkschloss nur im Kreis fahren könne und wog sich in Sicherheit.

So war es oft mit uns beiden Brüdern. Zusammengeschweißt aus dem gemeinsamen Erleben der gleichen bescheidenen Situation. Gern gemeinsam, aber nur bis zum Punkt der Rivalität. Die war es immer wieder, die anhaltende Nähe im Keim erstickte.

Einmal war ich auch hart mit ihm, weil ich mich einfach nicht traute, mit der Wahrheit herauszurücken. Ich machte meine erste Autofahrstunde im Auto meiner Mutter. Treckerfahren konnte ich ja schon. Natürlich hatte ich niemanden gefragt, ob ich es dürfte. Ich ahnte ja vorher schon genau, wie die Antwort ausfallen würde.

Schlüssel rein, Auto starten, vorher Kupplung treten. Rückwärtsgang rein und raus mit dem Karren aus der Eternitgarage. Dünne Steinplatten von zwei Quadratmetern in einem Stahlrahmen, Wellendach drüber und fertig ist die günstige Garage für kleines Geld.

Erster Gang rein, Kupplung kommen lassen und vooorsichtig wieder hinein in die Garage, im geeigneten Moment bremsen, Auto aus, Schlüssel raus und gefreut, wie Bolle.

Das wäre der Moment gewesen, abzubrechen, freudig um eine neue positive Erfahrung reicher den Schlüssel unbemerkt wieder anzuhängen und einfach glücklich sein.

Ich aber steckte den Schlüssel wieder rein, startete, Rüclwärtsgang rein, Einkuppeln, beim Rausfahren einlenken und quer zur Garage perfekt wieder zum Stehen zu kommen. Vorwärtsgang rein, Einkuppeln und wieder in die Garage rein, aber vergessen wieder geradeaus zu lenken. Mit einem lauten Krach zerbrachen zwei große Eternitplatten und knallten laut scheppernd auf den Boden. Der Blinker des kleinen R4 war auch noch hin und eine Delle im Blech.

Ich brach ab mit einer ziemlich blöden Erfahrung, hängte unbemerkt den Schlüssel an und fühlte mich schrecklich.

Später gab es großes Trara. Meine Mutter unterstellte Harry, mit dem Auto gefahren zu sein, was dieser unter Tränen beschwor, nicht getan zu haben. Niemand kam auf den kleinen Michael, der scheinbar friedlich in seinem Zimmer las. Fast eine Stunde später bekam ich mit, dass meine Mutter im Begriff war, die Polizei zu rufen, um eine Anzeige aufzugeben und brach das Schweigen. Ich heulte los und versuchte zu erklären, was mir passiert war und wie wenig ich das wollte und dass es mir leid tut, dass Harry ungerechter Weise meinen Ärger aushalten musste, weil ich mich nicht traute, die Wahrheit zu sagen.

Mann waren die sauer. Mein Bruder hat mich wochenlang nicht angesehen, kein Wort mit mir geredet, auch meine Mutter war extrem distanziert.

Shit happens.


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