Читать книгу Verwaltungsgerichtsordnung - Martin Redeker - Страница 34

III.Prüfungsrecht der Gerichte

Оглавление

6Die Unterwerfung der Gerichte unter das Gesetz verpflichtet sie zunächst zu prüfen, ob im für die gerichtliche Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt für das – ggf. begehrte – Handeln der Verwaltung eine ausreichende gesetzliche Grundlage vorhanden (gewesen) ist, wobei dieser Vorbehalt des Gesetzes als Vorbehalt der Regelung durch oder auf Grund eines Gesetzes verstanden wird7. Richtet sich die gerichtliche Überprüfung auf einen Grundrechtseingriff durch die Verwaltung besteht regelmäßig die Notwendigkeit einer parlamentarischen Eingriffsermächtigung, an die je nach Intensität des Grundrechtseingriffs unterschiedlich hohe Anforderungen an die Regelungsintensität (so genannte Wesentlichkeitstheorie) zu stellen sind8. Dieser Grundsatz des Vorbehaltes des Gesetzes ist nicht auf Eingriffsakte beschränkt, sondern gilt auch für die Leistungsverwaltung, wenn das Leistungshandeln der Verwaltung Grundrechtsrelevanz aufweist wie die beamtenrechtliche Beihilfe9.

6aDie Gerichte, insbesondere die Obersten Gerichtshöfe des Bundes, sind zu richterlicher Rechtsfortbildung10 in dem Sinne befugt, dass sie ggf. bei unzureichenden gesetzlichen Vorgaben das materielle Recht aus den allgemeinen Rechtsgrundlagen ableiten können und müssen11. Dazu gehört auch die Schließung einer Gesetzeslücke durch den Richter12. Der Rechtsfortbildung sind jedoch durch den Grundsatz der Rechts- und Gesetzesbindung des Art. 20 Abs. 3 GG Grenzen gesetzt13.

6bDas Gericht hat aber auch zu prüfen und zu entscheiden, ob ein wirksamer Gesetzesbefehl vorliegt, d. h. ob

1. ein Gesetz nach den für die Gesetzgebung in Bund und Ländern oder bei Trägern mittelbarer Staatsverwaltung geltenden Bestimmungen förmlich wirksam zustande gekommen ist14,

2. ein abgeleitetes Recht (Verordnung, Satzung usw.) sich im Rahmen der Ermächtigungsgrundlage hält15.

Das Gericht hat weiter zu prüfen, ob die Gesetze, denen es unterworfen ist, verfassungsgemäß sind, d. h. ob sie sich im Rahmen des Grundgesetzes oder – bei Landesrecht – der jeweiligen Landesverfassung halten. Dabei kommt es nicht da­rauf an, ob der Gesetzgeber im Rahmen eines ihm zustehenden Ermessens die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung gefunden hat16, auch der Gleichheitssatz bietet dem Gericht keine Möglichkeit, seine Auffassung von Gerechtigkeit derjenigen des Gesetzgebers zu substituieren17. Im Sinne des Vorbehalts des Gesetzes müssen Entscheidungen, die wegen ihrer weit reichenden Auswirkungen auf den Bürger, insbesondere auf dessen Freiheits- und Gleichheitsbereich, auf die allgemeinen Lebensverhältnisse und wegen der notwendigerweise damit verbundenen Art und Intensität der Regelung als grundlegend und wesentlich anzusehen sind, vom Gesetzgeber getroffen werden18. Inwieweit die einmal getroffene grundsätzliche Entscheidung wegen im Zeitpunkt des Gesetzeserlasses noch nicht abzusehender technischer Entwicklungen ein erneutes Tätigwerden des Gesetzgebers erfordert, liegt zuvorderst in der politischen Verantwortung des Gesetzgebers, auch hier ist es nicht Aufgabe der Gerichte, mit ihrer Einschätzung an die Stelle der dazu berufenen politischen Or­ga­ne zu treten19.

7 Der gerichtliche Prüfungsumfang ist nicht unbegrenzt. Zum einen hat sich das Gericht auf die Prüfung der Verletzung der subjektiven Rechte des Klägers zu beschränken (§ 113 Abs. 1 Satz 1; Abs. 5 Satz 1); eine objektive Rechtskontrolle ist nur im Normenkontrollverfahren nach § 47 möglich. Zum anderen ergeben sich aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung Grenzen der gerichtlichen Kontrollbefugnis (dazu § 114 Rn. 11 ff.).

7aFür die Feststellung der Verfassungswidrigkeit nachkonstitutioneller Gesetze, d. h. aller Gesetze, die nach Inkrafttreten des Grundgesetzes erlassen oder novelliert20 sind, hat jedoch das BVerfG das Entscheidungsmonopol21. Das Gericht muss daher das Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG aussetzen und die Entscheidung des BVerfG bzw., soweit es sich um die Verletzung der Verfassung eines Landes handelt, des Verfassungsgerichts dieses Landes einholen, wenn es der Auffassung ist, dass das Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung des Rechtsstreites ankommt22, verfassungswidrig ist23; das Gleiche gilt, wenn es sich um die Verletzung des Grundgesetzes durch Landesrecht oder um die Unvereinbarkeit eines Landesgesetzes mit einem Bundesgesetz handelt24. Das Gericht ist in diesem Fall durch Art. 100 GG an jeder anderen Entscheidung gehindert25. Das weitere Verfahren richtet sich dann nach §§ 80 ff. BVerfGG bzw. dem VerfGG des Landes. An die Entscheidung des Verfassungsgerichts ist das Gericht sodann gebunden26. In gleicher Weise hat das Gericht die Entscheidung des BVerfG einzuholen, wenn streitig und erheblich27 ist, ob ein Gesetz als Bundesrecht fortgilt28. An die Darlegung der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage müssen strenge Anforderungen gestellt werden29; der Vorlagebeschluss ist vom vorlegenden Gericht aufzuheben, wenn die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes nicht mehr entscheidungserheblich ist30.

7bDie Vorlage an das BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 GG (zur Begründung vgl. BVerfG NJW 1992, 1951) kann nicht nur in Verfahren über die Hauptsache, ein­schließ­lich des verwaltungsgerichtlichen Normenkontrollverfahrens (vgl. § 47 Rn. 9) in Betracht kommen, sondern grundsätzlich auch, wenn vorläufiger Rechtsschutz nach § 80 oder § 123 begehrt wird31. Auch beim vorläufigen Rechtsschutz handelt es sich materiell um die Anwendung von Gesetzen, bei denen die Verfassungsmäßigkeit fraglich sein kann. Soweit jedoch die Frage der Verfassungsmäßigkeit einer Norm nur bei der Interessenabwägung im Hinblick auf die Aussichten der Hauptsache betrachtet wird (wie regelmäßig im Verfahren nach § 80), wird die Vorlage erst im Hauptsacheverfahren in Betracht kommen32. Das Gericht kann jedoch, wenn dies nach den Umständen des Falles im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes geboten erscheint und die Hauptsacheentscheidung dadurch nicht vorweggenommen wird, vor der im Hauptsacheverfahren einzuholenden Entscheidung des BVerfG selbst vorläufigen Rechtsschutz gewähren33. Wo jedoch die Regelung des vorläufigen Zustandes die endgültige Entscheidung weitgehend vorwegnimmt, ist auch im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG geboten34.

8Das Gericht setzt nach Art. 100 GG durch Beschluss aus. Dieser Beschluss wird von dem Gericht in voller Besetzung gefasst35 und ist als besonderes Rechtsinstitut36 nicht anfechtbar. Die Vorlage an das BVerfG ist für das Vorlagegericht grundsätzlich Verfahrenshindernis37. Die Bindung an die Vorlage kann jedoch entfallen und das Vorlagegericht zur Aufhebung seines Beschlusses befugt sein38 infolge nachträglicher Dispositionen der Parteien39, bei zwischenzeitlich eingetretenen Rechtsänderungen40, bei anderweitiger Entscheidung des BVerfG in parallelen Normenkontrollverfahren41 oder auch, wenn das Vorlagegericht in Bezug auf die Gültigkeitsfrage oder die Entscheidungserheblichkeit seine Auffassung ändert oder sich einer ihm unterbreiteten gegenteiligen Meinung anschließt42.

9Die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes, das vor Inkrafttreten des GG oder der jeweiligen Landesverfassung erlassen worden ist (vorkonstitutionelles Gesetz), kann das Gericht dagegen im anhängigen Verfahren selbst feststellen, da ein solches Gesetz der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle nicht unterliegt43, es sei denn, das Landesrecht hat die Prüfungskompetenz des Landesverfassungsgerichts auch auf vorkonstitutionelles Recht erstreckt44.

10Nach Art. 9 des Einigungsvertrags bleibt in den dort aufgeführten Fällen das im Zeitpunkt der Unterzeichnung des Vertrages geltende Recht der DDR als Landes- bzw. als Bundesrecht in Kraft, soweit es mit dem Grundgesetz, mit dem in Kraft gesetzten Bundesrecht sowie mit dem un­mittel­bar geltenden Recht der EU vereinbar ist. Soweit das DDR-Recht nicht aufgehoben worden ist, ist es jedoch weitgehend in den Ländern in Landesrecht überführt worden. Das Gericht hat inzidenter zu prüfen, ob diese Voraussetzungen vorliegen und stellt dabei fest, ob die betreffende Vorschrift in Kraft geblieben ist. Ebenso wie bei dem vorkonstitutionellen Gesetz (vgl. Rn. 9) besteht insoweit keine Verpflichtung zur Vorlage an das BVerfG nach Art. 100 GG45. Da es an einer ausdrücklichen Zuweisung an das BVerfG fehlt, scheidet auch eine Vorlage entsprechend § 86 Abs. 2 BVerfGG aus. Eine Vorlage an den EuGH kann unter den in Rn. 17 erläuterten Voraussetzungen in Betracht kommen.

11Bei allen Rechts­vorschriften, die nicht formelles Gesetz sind, kann das Gericht, nicht auch die Widerspruchsbehörde (vgl. § 73 Rn. 13), auch den Verstoß der entscheidungserheblichen Norm gegen eine höherrangige Norm und damit deren Verfassungswidrigkeit bzw. Ungültigkeit selbst feststellen (inzidente Normenkontrolle) und sie dann bei seiner Entscheidung außer Betracht lassen, so z. B. bei bundesrechtlichen Verordnungen46, auch wenn sie der Zustimmung einer gesetzgebenden Körperschaft bedürfen47. Wird eine Rechtsverordnung durch Bundesgesetz geändert und in dieser Änderung die Regelung sogleich wieder zur Disposition des Verordnungsgebers gestellt, bleibt der Verordnungsrang und damit die Befugnis der Gerichte zur inzidenten Normenkontrolle erhalten48. Bei landesrechtlichen Verordnungen prüfen die Gerichte in gleichem Umfang, soweit die Landesverfassungen nicht bei Verstoß gegen Landesverfassungsrecht die Entscheidung der Verfassungsgerichtshöfe vorgesehen haben49, oder auch bei Satzungen50.

Zur abstrakten Kontrolle von landesrechtlichen Normen, die im Rang unter dem formellen Gesetz stehen, vgl. § 47. Durch die Eröffnung der abstrakten Normenkontrolle nach § 47 wird die inzidente Normenkontrolle im konkreten Fall nicht ausgeschlossen51. Zur Bindungswirkung der abweisenden Normenkontroll-Entscheidung vgl. § 47 Rn. 48.

12Das Gericht hat auch zu prüfen, ob völkerrechtliche Regeln innerstaatliche Geltung haben. Es kann über die Anwendung von Völkerrecht selbständig entscheiden52. Ist es jedoch zweifelhaft, ob eine Regel des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechts ist und ob sie unmittelbare Rechte und Pflichten für den Einzelnen erzeugt (Art. 25 GG), hat das Gericht nach Art. 100 Abs. 2 GG die Entscheidung des BVerfG einzuholen. Auch hier ist für die Vorlage erforderlich, dass die Zweifelsfrage entscheidungserheblich ist53. Vgl. im Übrigen Rn. 7 ff.

13Prüfungsmaßstab für das Gericht ist schließlich auch das Recht der Euro­pä­ischen Union. Bei dem Unionsrecht, das weder Bestandteil der nationalen Rechtsordnung noch Völkerrecht ist, handelt es sich um eine eigenständige Rechtsordnung, die aus einer autonomen Rechtsquelle fließt54. Dabei gelten die Vertragswerke als primäres Unionsrecht, während die von den Organen der Union erlassenen Verordnungen und Richtlinien als sekundäres Unionsrecht bezeichnet werden. Nach Art. 288 AEUV haben die Verordnungen, ohne dass es einer Transformation durch den nationalen Gesetzgeber bedarf, unmittelbare Geltung im Bereich der Mit­glied­staa­ten55. Die nach Art. 288 AEUV erlassenen Richtlinien entfalten diese Wirkung gegenüber dem zuständigen Organ des Mitgliedstaates nur hinsichtlich der Zielsetzung, während den innerstaatlichen Stellen bei der Umsetzung der Richtlinie in nationale Regelungen die Wahl der Form und der Mittel überlassen bleibt56. Der EuGH verlangt für die Umsetzung einer Richtlinie eine Rechtsnorm und sieht eine Verwaltungsvorschrift grundsätzlich nicht als ausreichend an57.

13aRichtlinien stellen keinen un­mittel­bar anwendbaren Rechts­akt eines Unionsorgans dar58. Durch sie werden die Mitgliedsstaaten zur Umsetzung in nationales Recht innerhalb einer bestimmten Frist verpflichtet. Vor Ablauf der Umsetzungsfrist entfalten Richtlinien nur begrenzt Rechtswirkungen. Die Mitgliedsstaaten haben vor dem Ablauf der Umsetzungsfrist alle Maßnahmen zu unterlassen, die das Erreichen des Richtlinienziels vereiteln oder verhindern könnten (Vorwirkung der Richtlinie)59. Stellt das nationale Gericht eine solche Wirkung einer nationalen Norm fest, hat es diese nicht anzuwenden60.

13bIst nach Ablauf der Umsetzungsfrist die Richtlinie nicht in nationales Recht umgesetzt worden, kann die Anwendung einer mit der Richtlinie in Widerspruch stehenden nationalen Vorschrift jedoch mit den Grundsätzen von Treu und Glauben unvereinbar sein61. Insbesondere darf der Mit­glied­staat die noch nicht umgesetzte Richtlinie nicht durch konträre Maßnahmen unterlaufen. Der EuGH62 geht in seiner Recht­spre­chung weiter, indem er der noch nicht umgesetzten Richtlinie im Rahmen der Umsetzungsverpflichtung dann Bindungswirkung für Verwaltung und Gerichte beimisst63, wenn die Voraussetzungen der ausnahmsweisen unmittelbaren Wirkung der Richtlinie vorliegen. Fehlen diese Voraussetzungen, gilt das nationale Recht64. Die Richtlinie entfaltet trotz fehlender oder unzulänglicher65 Umsetzung nach Ablauf der Umsetzungsfrist66 unmittelbare Wirkung mit der Folge, dass sich auch der Einzelne auf sie berufen kann, wenn die jeweilige Bestimmung der Richtlinie unbedingt und hinreichend genau ist67, insbesondere aber wenn sie dem Schutz der öffentlichen Gesundheit dient68.

13cDie Gerichte haben das nationale Recht im „Lichte des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie auszulegen“69, d. h. mit der Auslegung muss erreicht werden, dass das nationale Recht so weit wie möglich mit dem Ziel der entsprechenden Richtlinie im Einklang steht70. Dies gilt sowohl für das die Richtlinie umsetzende nationale Recht als auch das nationale Recht, das nach Ablauf der Umsetzungsfrist bei dann vorliegender unmittelbarer Wirkung der Richtlinie auszulegen ist.

14Für das Verhältnis von Unionsrecht zu nationalem (deutschen) Recht gibt es keine dem Art. 31 GG entsprechende Vorschrift. Der EuGH hat jedoch, da anders die Rechtsgrundlage der Union selbst in Frage gestellt würde, in ständiger Recht­spre­chung den Vorrang des Unionsrechts vor nationalem Recht bejaht, und zwar nicht nur für das Vertragsrecht, sondern über Art. 288 AEUV auch für sekundäres Unionsrecht71. Der EuGH hat dem sekundären Unionsrecht auch gegenüber dem parlamentarischen Haushaltsrecht, das im GG verfassungsrechtlich geregelt ist, Vorrang eingeräumt72. Durch den Vorrang ist auch ausgeschlossen, dass sekundäres Unionsrecht durch ein später erlassenes nationales Gesetz derogiert werden kann73. Aus dem Vorrang des Unionsrechts und dem Auslegungsmonopol des EuGH (vgl. Rn. 17) folgt, dass eine Entscheidung über die Auslegung einer EU-Norm durch den EuGH auch Vorrang vor der Auslegung dieser Norm durch das BVerwG hat74. An die Entscheidung des EuGH über die Vorlagefrage ist das Gericht gebunden; dies gilt auch dann, wenn die entscheidungserhebliche Frage vom EuGH in einem anderen Verfahren entschieden worden ist75.

15Innerstaatlich beruht der Vorrang des Unionsrechts auf Art. 23 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Ratifizierungsgesetzen und den Verträgen76. Nach­dem zunächst streitig war, ob sich dieser Vorrang, also auch des sekundären Unionsrechts, auch auf das Verfassungsrecht beziehen kann77, hat das BVerfG diese Frage bejaht78.

16Bei einer Kollision zwischen Unionsrecht und deutschem Recht führt der Vorrang des Unionsrechts nicht zur Nichtigkeit der deutschen Rechtsnorm; vielmehr überlagert das Unionsrecht die nationale Norm nur und schließt, solange es besteht, die Anwendung dieser Norm aus79. Die nationale Norm kann wieder angewendet werden, wenn das überlagernde Unionsrecht aufgehoben wird80. Zu den Besonderheiten der Verbindung von nationalem vorläufigen Rechtsschutz bei unionsrechtlich determinierten VAen vgl. § 80 Rn. 3b ff.; § 123 Rn. 10. Wieweit sich aus Art. 47 GrCH auch bei entgegenstehendem nationalem Recht eine Notwendigkeit vorläufigen Rechtsschutzes ergeben kann, ist noch nicht abschließend geklärt81.

17Das Gericht stellt selbständig fest, ob eine deutsche Gesetzesnorm wegen einer Kollision mit Unionsrecht nicht angewendet oder ausgeführt werden darf82. Das Gericht, gegen dessen Entscheidung ein Rechtsmittel zugelassen ist,83 kann84, das Gericht, das letztinstanzlich entscheidet, muss85 dem EuGH nach Art. 267 AEUV zur Vorabentscheidung vorlegen, wenn es für seine Entscheidung auf eine Auslegung der Verträge, insbesondere von EUV und AEUV, oder auf die Gültigkeit oder Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union86 entscheidungserheblich ankommt; vgl. die Empfehlungen des EuGH an die nationalen Gerichte bezüglich der Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen (ABl. 2012 C 338/1). Will ein Gericht einen unionsrechtlichen Rechts­akt wegen seiner vom Gericht angenommenen Ungültigkeit nicht anwenden, muss es wegen des Verwerfungsmonopols des EuGH vorlegen87. Um eine „Mussvorlage“ handelt es sich auch, wenn das OVG den Antrag auf Zulassung der Berufung ablehnen will und das Urteil damit nach § 124a Abs. 5 Satz 4 rechtskräftig würde88. In den Fällen der „Mussvorlage“ ist der EuGH gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG89. Das Unterlassen der „Mussvorlage“ ist Berufungszulassungsgrund im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 390 oder Revisionsgrund nach § 132 Abs. 2 Nr. 1.91 Die Vorlage an den EuGH kann nicht nur im Verfahren über die Hauptsache, ein­schließ­lich des Normenkontrollverfahrens (vgl. § 47 Rn. 9) erfolgen, sondern auch, wenn vorläufiger Rechtsschutz nach § 80 oder § 123 begehrt wird. Der EuGH92 hat hier die Zulässigkeit einer Vorlage auf jeden Fall bejaht, jedoch eine Verpflichtung zur Vorlage nach Art. 267 AEUV, auch wenn kein Rechtsbehelf mehr gegen die Entscheidung zulässig war, dann verneint, wenn ein Verfahren in der Hauptsache von dem Beteiligten selbst eingeleitet oder sonst verlangt werden kann; das BVerfG93 hat eine Verpflichtung zur Vorlage im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes verneint.

18Eine Vorlage an den EuGH ist nur erforderlich, wenn die Frage entscheidungserheblich ist94. Ein Vorabentscheidungsersuchen ist auch dann entbehrlich, wenn die unionsrechtliche Bestimmung bereits Gegenstand einer Auslegung durch den EuGH war oder die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum bleibt95; dies ist unter Berücksichtigung der Eigenheiten des Unionsrechts, der besonderen Schwierigkeiten seiner Auslegung und der Gefahr abweichender Gerichtsentscheidungen innerhalb der Union zu beurteilen96. Das nationale Gericht darf das Unionsrecht nicht eigenständig fortbilden oder sich über ihm bekannte Rechtsprechung des EuGH hinwegsetzen. Das nationale Gericht muss sich daher über die Rechtsprechung des EuGH zum materiellen Unionsrecht hinreichend kundig machen und darf nicht vorschnell das Vorliegen eines „acte clair“ oder eines acte eclaire“ annehmen97. Bei unterschiedlichen Auslegungen einer EU-Norm durch das BVerwG und durch den EuGH auf Vorlage eines anderen Gerichts geht die Entscheidung des EuGH vor (vgl. Rn. 14). Die den Normen des primären Unionsrechts vom EuGH auf Vorlage gegebene Interpretation kann vom BVerfG auf Grund einer Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG nicht überprüft werden98.

19Die Bindungswirkung eines zurückverweisenden Urteils steht der Vorlage an den EuGH durch das Gericht, an das zurückverwiesen wurde, nicht entgegen99. An die zur Notwendigkeit einer Vorlage geäußerte Auffassung des zurückverweisenden Gerichts ist das Gericht nicht gebunden, da Art. 267 AEUV ein eigenes Prüfungsrecht für dieses Gericht enthält und als Unionsrecht den §§ 130 Abs. 2, 144 Abs. 6 vorgeht (vgl. Rn. 13, 14). Die Vorlage ist jedoch ausgeschlossen, wenn das zurückverweisende Gericht die Sache bereits dem EuGH vorgelegt und dieser in derselben Frage entschieden hat100.

20Die Aussetzung des Verfahrens und Vorlage an den EuGH erfolgt durch Beschluss. Entsprechend der Vorlage an das BVerfG nach Art. 100 GG (vgl. Rn. 8) ist dieser Beschluss von dem Gericht in voller Besetzung zu fassen. Erzwungen werden kann die Vorlage von den Beteiligten nicht. Ob der Vorlagebeschluss des VG mit der Beschwerde angefochten werden kann, ist nicht ausdrücklich geregelt. Art. 267 AEUV steht einer Beschwerde un­mittel­bar nicht entgegen, vielmehr richtet sich die Beschwerdemöglichkeit nach nationalem Recht101, allerdings sieht sich der EuGH, solange der Vorlagebeschluss nicht aufgehoben ist, an diesen gebunden. Der Ausgestaltung des Vorlagerechts in Art. 267 AEUV102 entspricht es jedoch mehr, die im nationalen Bereich für die Vorlage an das BVerfG in Art. 100 GG entwickelten Grundsätze auch auf die Vorlage an den EuGH zu übertragen und die Beschwerde für unzulässig zu halten103. Die Aussetzung wegen der Vorlage der Rechtsfrage durch ein anderes Gericht hält Bremen104 für unzulässig105. Für die Änderung des Beschlusses nach Erlass dürfte damit auch das Gleiche gelten wie für den Vorlagebeschluss nach Art. 100 GG (vgl. Rn. 8). Entscheidet das Gericht in der Sache, ohne die Vorabentscheidung des EuGH einzuholen, kann mit dem zulässigen Rechtsmittel (Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung) gerügt werden, dass die Vorlage unterblieben ist106. Die Möglichkeit einer direkten Klage gem. Art. 263 AEUV gegen eine Entscheidung eines Unionsorgans107 schließt die Klage gegen VA, die nationale Behörden zur Durchführung dieser Entscheidung treffen, nicht aus und damit auch nicht eine Vorlage an den EuGH durch das nationale Gericht in einen solchen Rechtsstreit108.

21Eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG an das BVerfG wegen einer Kollision zwischen sekundärem Unionsrecht und den Grundrechtsgarantien des GG ist grundsätzlich unzulässig109, weil der EuGH gesetzlicher Richter i. S. v. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ist110. Auf Grund der Entwicklung innerhalb der Union und insbesondere der Recht­spre­chung des EuGH sieht das BVerfG die im GG garantierten Grundrechte nunmehr auch im Unionsrecht als gewährleistet an. Es hält deshalb die Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG für unzulässig, mit der Einschränkung, dass dies nur gilt, solange die Euro­pä­ische Union, insbesondere die Recht­spre­chung des EuGH, einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Union generell gewährleisten, der dem vom GG als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleich zu achten ist111. Hält das nationale Gericht das entweder unmittelbar oder ohne Spielraum für den nationalen Gesetzgeber umzusetzende Sekundärrecht für grundrechtswidrig, hat es gegebenenfalls das Vorabentscheidungsverfahren einzuleiten112. Die Vorlage an das BVerfG ist nur zulässig, wenn dem nationalen Gesetzgeber ein Umsetzungsspielraum eingeräumt ist113. Um dies zu klären, muss das Instanzgericht erforderlichenfalls ein Vorabentscheidungsverfahren einleiten.

22Eine wichtige Frage im jüngeren Schrifttum ist, inwiefern das Europarecht bereits un­mittel­bar die deutsche VwGO gestaltet114. Unter Europarecht wird dabei nicht nur das Recht der EU, sondern auch das Recht, das auf Grund internationaler Verträge gebildet worden ist, verstanden, insbesondere auf Grund der Euro­pä­ischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Der Einfluss von Art. 6 EMRK (und Art. 13 EMRK), Ge­währ­leis­tung von Justizverfahrensrechten bei Eigentums- und Berufsfreiheitsfragen, wirkt sich nicht un­mittel­bar auf die VwGO aus, da die EMRK im Range nur einfaches Recht darstellt. Allerdings sollte konventionsfreundliches Verhalten zu einer effektiven Umsetzung des Rechtsschutzes führen.

23Unzweifelhaft gibt es für die EU keinen direkten Kompetenztitel für das nationale Prozessverfahrensrecht. Dennoch wird das nationale Verwaltungsprozessrecht von den vom EuGH herausgebildeten Grundsätzen zum materiellen Unionsrecht beeinflusst115, z. B. bei der gerichtlichen Kontrolldichte, beim vorläufigen Rechtsschutz und bei der Klagebefugnis116 und zum Teil in der Weise modifiziert, dass der nationale Gesetzgeber das Verwaltungsprozessrecht entsprechend anpasst oder Sonderbestimmungen erlässt wie das UmwRG. Die Einzelheiten sind bei den jeweils betroffenen Vorschriften der VwGO erläutert117.

§ 2[Gerichte]

Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit sind in den Ländern die Verwaltungsgerichte und je ein Oberverwaltungsgericht, im Bund das Bundesverwaltungsgericht mit Sitz in Leipzig.

Übersicht Rn.
I. Allgemein 1
II. Verbindung mit anderen Gerichten 2
Verwaltungsgerichtsordnung

Подняться наверх