Читать книгу Briefe lügen nicht - Wie wir wirklich waren - Martina E. Siems-Dahle - Страница 10

Der rote Ordner

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„An deiner Stelle würde ich es nicht tun“, warnte mich mein Bruder schon kurz nach dem Tod unserer Mutter, als ich ihm erzählt hatte, dass es einen Ordner gäbe, in dem sie die Korrespondenz zwischen ihr, meinem Vater und mir während meiner Pubertät aufbewahrt hatte. Heiner wollte sicherlich verhindern, dass ich beim Lesen Geister weckte, die mich piesacken könnten.

Erst drei Jahre später schlug ich den roten Ordner auf, in der Hoffnung, endlich Klarheit zu erhalten und Gründe zu finden, warum Mutter und ich, zum Teil auch mein Vater und ich, so gravierend aneinander vorbei gefühlt und gelebt hatten.

Ich saß an meinem Arbeitsplatz zu Hause und schaute in einen stürmischen und verregneten Nachmittag hinaus. Auf meinem Schreibtisch lagen verteilt einige handgeschriebene Briefe, die meisten von meiner Mutter mit blauem Kugelschreiber, manchmal mit Bleistift auf gewöhnlichem, karierten oder linierten Papier geschrieben. Ihre weiche Handschrift stand für mich schon immer im Widerspruch zu ihrem pragmatischen Verhalten.

„Das gibt es nicht!“, entfuhr es mir laut. Ich starrte auf einen Fetzen Papier. Der mit Bleistift geschriebene Inhalt verriet mir, dass ich damals siebzehn gewesen war:


„Tini, bevor Du Dich mit Th. wieder triffst, überlege Dir gut, was zu tun ist. Den Schutz, den Du gestern offensichtlich genommen hast (Reste in der Hose), reicht todsicher nicht aus, um das Schlimmste zu verhüten. Entweder Du widerstehst ihm in einer Form, die risikolos bleibt oder Dein Weg ist wie bei allen anderen Mädchen zum Frauenarzt. – Wähle gut, Du weißt, was ich damit meine. Mutti

P.S: Ich meine es in jeder Form gut. Mache was aus Deiner Jugend. Bleibe das Mädchen, was Du eigentlich im Grunde immer geblieben bist. Werde kein Dutzendmensch!

Ich hatte verdrängt, wie kontrolliert ich zu Hause lebte. Und mit jedem Brief, jeder Zeile, jedem Wort, pirschte sich die Erinnerung heran, sie bedrohte mich, machte mich schwindelig, würgte mich. Gleichwohl musste ich als über Fünfzigjährige oft lachen über so manche Ausrede, die mir als Teenager eingefallen war.

Wie jedes Kind konnte auch ich meine Eltern nur als Eltern erleben, nicht als Menschen, die ein Leben vor ihren Kindern hatten. Die wenigen Anekdoten, die sie erzählten, ergaben kein vollständiges Bild. Mit dem Nachlass an Ordnern und Kartons hatte ich die Gelegenheit erhalten, Briefe zu lesen, als sie junge Menschen gewesen waren. Ich wagte das Abenteuer, was mir zu Anfang gar nicht so bewusst war, in die Vergangenheit meiner Eltern und ihrer Eltern hinab zu tauchen. Mit jedem Dokument, das sie mir hinterlassen hatten, lüftete sich Stück für Stück ein Schleier der Unkenntnis. Und was ich heraufholte, ließ mir so manches Mal den Mund offen stehen. Ich trat in einen inneren Dialog mit ihnen. Endlich fand ich Erklärungen.

Briefe lügen nicht - Wie wir wirklich waren

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