Читать книгу Briefe lügen nicht - Wie wir wirklich waren - Martina E. Siems-Dahle - Страница 19
Der letzte Wille II
ОглавлениеIn den Testamentsakten, die im Wohnzimmerschreibtisch lagen, fand ich im Juli 2008 eine handschriftliche Notiz meiner gerade verstorbenen Mutter.
„Es ist mein ausdrücklicher Wille, dass bei meinem Tod keine Zeitungsanzeige aufgegeben wird, auch keine Trauerpost verschickt wird. Zu meiner Beerdigung soll nur meine engste Verwandtschaft kommen, meine Schwestern und natürlich meine Kinder.“
Heiner und mir fiel es schwer, dem Wunsch unserer Mutter zu entsprechen, den engsten Familienkreis zu definieren, und Freunde, die auch uns über Jahrzehnte vertraut geworden waren, aussortieren zu müssen.
Als ich zum Beerdigungsunternehmer fuhr, um ein hellblaues Kleid zu bringen, das meiner Mutter angezogen werden sollte, ging ich an dem Raum vorbei, wo sie gerade zurechtgemacht wurde. Sie war an dem Morgen in der schwarzen Limousine mit den grauen Gardinen in den Fenstern von Bayreuth nach Oldenburg gebracht worden.
Ich zögerte. Ich dachte an den Anblick meines toten Vaters, der mich nicht erschreckt hatte.
Aber meine Mutter?
Ich ging vorbei.
Als wir drei Tage später am offenen Grab standen, in dem erst zwei Jahre zuvor der Vati seine letzte Ruhestätte gefunden hatte, brach es aus mir heraus. „Es“, das waren Traurigkeit, Scham, Schuldgefühl, vielleicht auch Hoffnungslosigkeit, dass ich mich nicht mehr bei ihr entschuldigen konnte.
Und dieser Schmerz bohrte sich so tief in meine Seele, dass ich ein Jahr später wieder „unter Null“ war. Ich suchte, wie einige Jahre zuvor, das professionelle psychotherapeutische Gespräch. Aber dieses Mal brauchte ich nur eine Sitzung.
„Ihre Mutter hat es geschafft, Sie über ihren Tod hinaus zu dominieren.“
„Über den Tod hinaus! Bist du nicht erleichtert gewesen, dass du dich fortan nicht mehr mit mir auseinandersetzen musstest?“
„Zugegeben, Mutti, oft, sehr oft, habe ich mir in meinem Leben die Frage gestellt: ‚Wann hört dieses Bevormunden auf? Dieses Sich-Einmischen? Das Anzweifeln und Hinterfragen meiner Entscheidungen? Das Mich-Vereinnahmen? Ja, ich hatte zuweilen den Glauben, ich wäre frei, zumindest freier, wenn Du nicht mehr auf Erden sein würdest. Ein Trugschluss! Ein Blödsinn!“
„Das ist wohl wahr. Du kommst ja aus mir!“
Was die Therapeutin andeutete, beschrieb mein Bruder schon im Februar 1978:
Liebe Tini!
(…) Mutti hat die Eigenschaft, jemanden anzuspornen, indem sie ihm droht, ihn bestraft oder, wie auch ich es zur Genüge erfahren habe, einem sagt, man sei ein Versager etc.! Das gilt bei mir z.B. für die Doktorarbeit! Dieses Phänomen ist durchaus nicht selten und man sollte es nicht allzu wörtlich nehmen!
(…) Wenn etwas schief läuft, und das seit Jahren, und dann noch zunehmend, dann ist es nur zu verständlich, wenn man auf einmal das Gefühl bekommt, alles sei gegen einen, niemand würde einen verstehen, ja sogar noch alles daransetzen, einem das Leben schwer zu machen! (…) So etwas geht natürlich an das Selbstbewußtsein, an das, was man Selbstwertgefühl nennt und läßt einen schließlich an sich selbst zweifeln! Daß man sich dabei langsam aber sicher in diese Situation auch selbst hineinrennt, wird einem nicht mehr bewußt! Die große Gefahr, die darin steckt, ist, daß man nicht mehr erkennen kann, was wirklich für einen selbst wichtig ist! (…) Dein Heini
Mein Vater beschrieb als Verlobter 1950 wie folgt die Stellung meiner Mutter in ihrer Beziehung:
So wie ich Dich kenne, weiß ich, daß Du entscheiden wirst, wie Du bisher auch entschieden hast im Kleinen und Großen: Das ist Deine Art. Und die Entscheidung, die Du triffst, ist auch für mich die richtige, ich bin dazu nicht fähig. Was Du in Deinem Interesse (in jeder Hinsicht) für richtig hältst, das ist für mich, für uns richtig. Daran gibt es keinen Zweifel.