Читать книгу Briefe lügen nicht - Wie wir wirklich waren - Martina E. Siems-Dahle - Страница 8
Der vorletzte Hilferuf
ОглавлениеWeiße Wolken zogen in hoher Geschwindigkeit über mich hinweg. Seit Tagen hatte es im Westen Nordrhein-Westfalens heftige Unwetter gegeben. Diese himmlischen Kapriolen ähnelten meinem Gemütszustand. Es war früher Nachmittag an diesem 02. Juni 2008. Ich raste von Köln nach Oldenburg, nahm die A3, A2 und dann die A 31, und schließlich bei Leer, Ostfriesland, wo meine Schwiegereltern begraben lagen, die A 29.
Was würde mich da wieder erwarten, zu Hause, im Heynesweg, fragte ich mich. Meine Mutter hatte am Vormittag einen Notruf abgesetzt.
„Tini, bitte komm‘ und hilf mir. Ich habe so schlimme Schmerzen. Heiner hat schon im Krankenhaus Westerstede angerufen. Die wissen Bescheid. Ich soll mich in der Notaufnahme melden.“ Sie schluchzte, ihre Stimme war brüchig.
„Ja, natürlich. Ich muss hier nur noch einiges organisieren.“ „Einiges“, das waren meine fünfzehnjährige Tochter Cora, Claus, mein Mann, und Welpe Sandy.
Nun fuhr ich in meine Heimat, an grasendem Buntvieh vorbei, das schwarz-weiß war. Oldenburger Pferde schritten über Koppeln. Gedrungene Bauernhäuser aus rotem Ziegelstein lagen verstreut über dem saftigen Land. Baumschulen am Autobahnrand präsentierten ihre Kunstobjekte: rasierte, gestutzte Nadelgehölze, kugelförmige Buchsbäume. Meterhohe, in praller Blüte stehende Rhododendren säumten die Grundstücksgrenzen.
Während ich die Ausfahrt Wechloy nahm, versuchte ich mir einen Plan zurechtzulegen, wie ich meine 83-jährige Mutter, die sich kaum bewegen konnte, ins Auto bekomme und bequem lagern kann.
Die Osteoporose hatte die Wirbelsäule peu à peu zerbröselt. Wirbel sackten zusammen, quetschten Bandscheiben ein oder brachen. Knochenzement, Titanstifte, alles erdenklich Mögliche hatte meine Mutter schon erhalten. Jedes Mal war eine OP ein Risiko, weil sie Marcumar nahm, das sie absetzen musste, nur Heparin durfte noch gespritzt werden. Die höllischen Schmerzen rührten vermutlich daher, dass bei einer OP ein Nerv mit Knochenzement einbetoniert worden war. Selbst Morphium brachte kaum Linderung.
Kurz bevor ich die Einfahrt zum Haus erreichte, das in zweiter Reihe zur Straße lag, schwirrten Gedanken, die eher Vorwürfe waren, durch meinen Kopf.
„Nur weil Mutti keinen Kontakt mehr nach draußen pflegt, muss ich aus Köln extra hierher fahren.“
Seit Vaters Tod zwei Jahre zuvor hatte sie alle Freundschaften vernachlässigt. Mein Vater, gezeichnet durch multiple zerebrale Infarkte und gegen Lebensende bettlägerig, hatte das große Glück, in seiner Elly eine aufopfernde Pflegerin zu haben – aber sie ließ auch keinen anderen ran, weil es ihr niemand recht machen konnte. Selbst in ihrer damaligen eigenen misslichen Situation kam für sie ein Pflegedienst, geschweige denn privat angeheuerte Frauen, die im Haus hätten leben können, nicht in Frage.
Ziemlich geladen stieg ich aus meinem Auto und knallte die Tür zu. Den Hausschlüssel brauchte ich nicht. Meine Mutter ließ die Eingangstür Tag und Nacht angelehnt, damit nicht nur ihre Haushaltshilfe, sondern jeder, der etwas bringen oder abholen wollte, problemlos hinein konnte. Aufstehen konnte sie nicht mehr, um die Tür zu öffnen. Allein der Gedanke, dass wildfremde und vielleicht unehrliche Zeitgenossen jederzeit ins Haus gekonnt hätten, ließ meinen Magen verkrampfen.
Ich eilte die Treppe hoch, an der noch zu Lebzeiten meines Vaters ein Treppenlift angebracht worden war. Das Haus war 1979 großzügig gebaut worden, Eingangsdiele unten und der Flurbereich oben waren überdimensional geräumig. Meine Eltern hatten sich einen Traum mit diesem Haus erfüllt. Endlich Platz!
Die Schlafzimmertür stand offen. Meine Mutter lag im Pflegebett, dessen Rückenteil hoch gestellt war.
„Da bist du ja. Wie war die Fahrt?“
„Danke. Gut.“
Sie wollte sich etwas hoch drücken und schrie vor Schmerz auf.
„Wie bekomme ich dich jetzt aus dem Bett?“
Ich ging näher zu ihr hin und schaute in ein graues, eingefallenes Gesicht. Die Nase wirkte viel zu groß. Die Augen lagen tief in ihren Höhlen. Ihr weißes Haar war stumpf geworden.
„Da brauchst du dir jetzt keine Gedanken zu machen. Wir bekommen gleich Besuch, von Hille aus Bremen. Ich hab’ sie eingeladen. Du kannst schon mal Tee aufsetzen und schauen, ob wir noch Kekse haben.“
Ich schnappte nach Luft. Ich runzelte die Stirn, spürte meine Zornesfalte.
„Aber du musst doch ins Krankenhaus! Die warten doch.“
Wie so oft schon in meinem Leben, wenn Mutti und ich nicht einer Meinung waren, floss mir ein heißes Kribbeln durch Haut und Adern. Heiner hatte es trotz seines anstrengenden Alltags als Radiologe in Bayreuth geschafft, in Westerstede bei Oldenburg die Ärzte zu mobilisieren, dass sie unsere Mutter an diesem Tag noch aufnehmen und intensiv betreuen wollten.
Sie fügte noch hinzu: „Ich habe jetzt Appetit auf Obstsuppe, hol‘ mir bitte welche.“
Ich verstand sie nicht. Tränen der Wut füllten meine Augen. Meine Stimme wurde zittrig, als ich sagte: „Das glaube ich jetzt nicht. Ich rase hierher, um dir zu helfen, finde hier einen Haufen Elend vor – und du kommandierst mich erst mal rum?“
Wieder gellte ihr Schmerzensschrei durch das Haus. Sie fing an zu weinen. Oh, mein Gott, sie tat mir so leid!
„Ich will nicht mehr. Warum lasst ihr mich nicht einfach sterben?“
„Was soll das jetzt, Mutti? Willst du mir ein schlechtes Gewissen machen?“
Mein Tonfall erschien mir selbst unangemessen aggressiv. Ihr Weinen klang erschütternd. Ich war verzweifelt. Sollte ich sie tröstend in den Arm nehmen? Wie oft hatte ich in meinem Leben darauf vergeblich gewartet, dass meine Mutter einmal Zärtlichkeit zeigte, uns Kinder spontan umarmte? Nein, so lautete mein Entschluss, ich würde hart bleiben. Auch einen liebevollen Händedruck von mir ließ ich nicht zu.
„Um fünf Uhr fahren wir“, gab ich bekannt, „egal, ob Hille noch da ist oder nicht.“
Zur angekündigten Uhrzeit bat ich Hille um Verständnis. Sie half mir noch, Mutter ins Auto zu setzen und wir fuhren los. Es dauerte dann in der Tat, wie immer in den Notaufnahmen, Stunden, bis sie versorgt wurde. Wie immer ließ sie den Ärzten kaum eine Chance, Fragen zu stellen.
„Hören Sie mal eben zu!“, war ihr Standardsatz. Dann erzählte sie ihre Leidensgeschichte inklusive Anamnese. Nach geraumer Zeit sagte die Ärztin:
„Ich glaub', Sie brauchen mich nicht mehr. Sie wissen scheinbar selbst am besten, wie Ihnen zu helfen ist.“
„So?“ Meine Mutter verstummte. Ich schwieg.
Am nächsten Tag lag sie in einem Patientenzimmer der Notaufnahme. Ein junger Arzt kam. Ich saß am Fußende des Bettes. Wieder erhob meine Mutter den rechten Zeigefinger. Dieser Arzt war geduldiger. Zum ersten Mal fiel mir auf, dass meine Mutter die Augen weit geöffnet hatte und ihr Blick ziellos durch den Raum schweifte. Ihre Worte waren undeutlich. Sie wiederholte sich. Morphium. Ich begleitete sie noch auf ein Stationszimmer, ordnete ihre Wäsche in den Schrank, schaute sie ernst an und verabschiedete mich. Drei Stunden später war ich wieder in Köln.
Köln, 6. Juni 2008
Liebe Mutti,
(…) Ich versuche seit Wochen Dich von der Notwendigkeit zu überzeugen, dass Du Dir Betreuung ins Haus holst. (…) Es kann doch nicht angehen, dass Du mich aus Köln holen musst, um Ansprache und Gesellschaft zu haben? Mein Kommen war schließlich nichts anderes als die Inanspruchnahme alltäglicher Pflege, Hilfs- und Fahrdienste, die eine Dame, und bezahlt noch dazu, hätte leisten können. (…)
Ich komme Dich gerne besuchen. Aber es muss eine Lage bei Dir im Haus vorhanden sein, die es ermöglicht, dass wir zwei unkomplizierte Gespräche haben und noch einige gute, schöne Dinge tun können. (…) Ich wiederhole mein Angebot, dass ich Dir bei der Suche nach Unterstützung helfen kann.
Allein – solltest Du das leider immer noch nicht einsehen, dass das der beste Weg für Dich für ein weiteres erfreulicheres Leben ist, und dass Du damit Heiner und mir eine große Last nimmst, werde ich mich nicht imstande sehen, nach OL zu kommen, (…). Deine Mutter konnte sich das vielleicht mit Euch Schwestern erlauben – bei mir geht das nicht, auf Abruf parat zu stehen, für Dinge, die ich gar nicht machen müsste und auch nicht will.
(…) Gib mir bitte irgendwann Zeichen, wie Du Dich entscheidest, Deinen Alltag zu gestalten.
Ich wünsche Dir, dass es weiterhin voran geht mit Deiner Mobilität und die Schmerzen im Erträglichen bleiben. Liebe Grüße! Deine Tini