Читать книгу Briefe lügen nicht - Wie wir wirklich waren - Martina E. Siems-Dahle - Страница 12
Vom „positiven Denken“ und der „Notwendigkeit“
Оглавление„Wenn du doch nur mal positiver denken könntest, dann würde dir vieles leichter fallen.“ Frühjahr 2006: Ich war mal wieder in Oldenburg.
„Es gibt kein positives Denken“, antwortete mir meine Mutter. Wir saßen im Wohnzimmer, sie auf dem Zweiersofa, ich im Sessel. Mein Vater lag im ersten Stock in seinem Pflegebett.
Meine Mutter hatte ihre Beine übereinander geschlagen und wippte mit dem oberen unentwegt, auf und nieder, auf und nieder. Ein Haarnetz zähmte ihr schlohweißes Haar, das sie an den Schläfen, direkt oberhalb der Ohren, mit Haarklemmen festgemacht hatte. Muttis aschfahlen Wangen waren eingefallen, ihre Nase stand dominant zwischen den ausgeprägten Wangenknochen. Der Mund schmal und blass, ihr Blick war gesenkt, die Brillengläser im goldfarbenen Gestell gräulich getönt.
Die Sonne schien hell durch die zimmerhohen Fenster in diesen sechzig Quadratmeter großen Raum. Mein Blick hinaus, über die von mir wenig geliebten weiß und rot blühenden Alpenveilchen auf der Fensterbank, erfreute sich an den hellblauen Perlhyazinthen, den ersten Glockenblumen und Tulpen. Der Rasen war nach hinten hinaus eingefriedet von einem einige Meter hohen Rhododendronwall. Den „grünen“ Daumen hatte meine Mutter in der Tat. Sie und mein Vater – er jedoch gezwungenermaßen - hatten Jahrzehnte lang viel Arbeit investiert. Aber sie wurden jedes Frühjahr und jeden Sommer von ihrem selbst angelegten Paradies belohnt.
An diesem Aprilwochenende 2006 fiel mir zum ersten Mal auf, dass das Unkraut zwischen den knorrigen Rosenpflanzen wucherte. Der Rasen, sonst auch im Winter ein grüner Flauschteppich, war fleckig geworden, Maulwürfe hatten unter ihm ihr neues Zuhause gefunden.
Wir warteten auf die Geschwister meines Vaters und den Schwager.
„Mutti“, hatte ich bei meinem Besuch im Februar davor gesagt, „ich möchte dich bitten zu akzeptieren, dass Enno, Lore und Hermann Papi besuchen kommen können. Ich habe mit Papi gesprochen. Er möchte das auch. Wer weiß, ob es nicht die letzte Möglichkeit ist.“
Mir standen die Tränen in den Augen. Ich wünschte mir nüchterner zu sein. Meine Mutter zuckte nur kurz mit den Schultern und sagte: „Na, dann.“
„Mann, bist du verbittert! Natürlich gibt es positives Denken!“, empörte ich mich während meines Aprilbesuchs. Ich erhob mich vom Sessel und fühlte wieder diese Ohnmacht in mir, wie schon so oft, wenn sie und ich zusammen waren.
„Hat dir in deinem Leben eigentlich irgendetwas Spaß gemacht, also, ich meine, so richtig Freude, dass dein Herz hüpfte?“
„Nun hör mal eben zu!“
„Wie bitte? Wer spricht da?“
„Ich.“
„Mutti?“
„Ja.“
„Quatsch. Wo sollst du denn sein?“
„Ich bin überall.“
„Klar! Wie geht es dir? – Entschuldigung, wie soll es einem in deinem Zustand schon gehen?“
„Schmerzfrei. Aber darum geht es nicht.“
„Warum dann, Mutti?
„Ich will deine Aufarbeitung nicht unkommentiert lassen!“
„Ach, Mutti, selbst jetzt mischt du dich ein.- Na gut, ich wiederhole meine Frage von damals: Hat dir im Leben irgendetwas wirklich Spaß gemacht oder war alles nur….“
„…eine Notwendigkeit. Dieses Wort kennst du ja schon, Tini.“
„Allerdings. Zur Genüge. Man muss etwas tun, um eine Not zu wenden.“
„Genau. Meine Arbeit als Medizinisch Technische Angestellte im Landeshygieneinstitut war meine Erfüllung. Obwohl - weißt du eigentlich, dass ich nebenbei noch während der Kriegsjahre für das Abitur lernte, um Medizin studieren zu können? Meine Eltern hatten mir den Besuch eines Gymnasiums nicht erlaubt.“
„Aus den Briefen zwischen dir und deinem Jan habe ich es herausgelesen. Mutti, Respekt. Du hast dich von den Machoworten dieses Jan nicht beeindrucken lassen, wie überhaupt nicht von den Jungs, die damals von den Mädchen die übliche Frauenrolle erwarteten. Du warst mächtig emanzipiert, und das schon mit 17, 18 Jahren.“