Читать книгу Briefe lügen nicht - Wie wir wirklich waren - Martina E. Siems-Dahle - Страница 5

Prolog

Оглавление

Der Humor hat in unserer Familie eine wichtige Rolle gespielt. Ohne ihn hätten die Protagonisten dieser biografischen Geschichte Armut, Demut, Krankheit, Krieg, Verlust, Neuanfang und seelische Verletzungen kaum überwunden.

Von seiner ersten Ausbildungsstation, einer Baubatterie in Rendsburg, schrieb mein damals neunzehnjähriger Vater am 8.2.1940 an seine Eltern:


Liebe Eltern!

(…) Gestern ist mir eine peinliche Sache passiert, die jedoch von unserem Feldwebel selbstverständlich von der humoristischen Seite genommen wurde. Als er (…) unerwartet in unsere Stube eintrat, bemerkte ich, mit zwei anderen Kameraden in einen Mittagsskat vertieft, nicht den Achtungsruf. Der Erfolg war, daß mir plötzlich ein Paar Handschuhe ins Gesicht flogen, worauf ich, in der Meinung, einer der Stubenkameraden sei der Täter, schrie:

„Seid Ihr denn verrückt geworden?“

Allgemeines Gelächter, dann mußte ich riesige Runden um die Baracken drehen und mich dann beim Feldwebel melden. Auf seiner Stube angekommen fragte er mich:

„Sie sind Landwirt?“

„Nein, Herr Feldwebel.“

„Sie sind doch Landwirt!“

„Nein, Herr Feldwebel!“

„Mann, wenn ich Ihnen sage, Sie sind Landwirt, dann sind Sie Landwirt!“

„Jawohl, Herr Feldwebel!“

„Also, Sie sind Landwirt und können mit Stroh umgehen!“

„Jawohl, Herr Feldwebel!“

„Gut, dann schütteln Sie bis Sonntag jeden Morgen meinen Strohsack auf.“ (…)

Herzliche Grüße! Euer Hans-Jürgen


Mein Vater, geboren 1921 in Wehnen bei Oldenburg, ist nach dem Zweiten Weltkrieg Lehrer geworden. Er war darüber hinaus mit Leib und Seele Lyriker und Schüttelreimer. Mit seinem Werk, das er selbst noch bei Books on Demand[1] veröffentlichte, begleitete er sein Umfeld mit Humor über seinen Tod im Jahr 2004 hinaus.

Die Übungen in seinen Schularbeitsheften, die fast vierzig Jahre beim Ernst Klett Verlag erschienen sind, waren dem kindlichen Bedürfnis nach Witz und Scherz angepasst.

Meine Mutter, geboren 1925 in Rüdershausen bei Brake an der Unterweser, ist zwar die Leichtigkeit des Humors nicht „in die Wiege gelegt“ worden, doch sie hatte eine große Freude an Witzen, besonders an unfreiwilliger Situationskomik. Sie hat vorwiegend mit Pragmatismus unser (Über-) Leben ermöglicht. Dabei stellte sie ihr eigenes Wohlbefinden meistens hintenan, „weil sich das so gehört“. Das Leben funktioniere nur, wenn man sich an Normen hält. Spontanität und Gefühle hätten da nichts zu suchen.

Im Nachlass fand ich, um nur einige Zahlen zu nennen, etwa 1500 Briefe zwischen meinem Vater und seiner Familie von 1939 bis 1947. Es gibt weitere etwa fünfhundert Briefe zwischen meiner Mutter und Soldaten jener Zeit und es gibt Korrespondenzen und Berichte meiner Großeltern ab dem beginnenden 20. Jahrhundert. Und es gibt von meiner Mutter aufbewahrte Notizen und Briefe aus den 1970er Jahren, als sich ein breiter Graben zwischen meinen Eltern und mir auftat. Wir durchlebten einen Generationenkonflikt, wie er in jener Zeit typisch für deutsche Familien war.

Der Humor als Mittel zum Zweck ist die eine Seite. Die andere ist, dass die Wertvorstellungen, mit denen jeder entsprechend seiner Zeit, in der er aufwächst und lebt, diese als die „richtigeren“ ansieht. Natürlich gibt es einige Ausnahmen, Visionäre und Menschen, die in der Lage sind, ihre eigene Zeit kritisch zu hinterfragen. Die Masse bleibt aber stumpf.

Die Briefe und Notizen vermitteln einen authentischen Einblick in drei Generationen. Sie sind Zeitzeugen, vermitteln Gedanken, Gefühle und – politische – Einstellungen der Schreibenden. Und sicherlich nicht nur deren, sondern die der meisten Deutschen. Es sind Dokumente, die nichts rückblickend verfälschen können, weil sie eben direkt aus diesen drei ‚Epochen‘ stammen. Sie fördern Wahrheiten ans Licht.

Noch mehr: Sie offenbaren Erklärungen über die Spannungen zwischen meiner Elterngeneration, Deutschen, die bis 1930 geboren wurden, und ihren Kindern. Sie dokumentieren und erhellen die Gründe für diesen bis dahin nie da gewesenen Generationenkonflikt, was mir, während ich diese persönlichen Texte und Papiere durcharbeitete, erst schleichend bewusst wurde. Genauer als jedes Geschichtsbuch oder jeder Historienfilm bringen sie das tatsächliche Denken und Leben dieser Generationen an die Oberfläche.

Die charakterlichen Eigenarten der Personen in meiner Familie sind die eine Ursache für die Verletzungen, die wir uns zufügten. Die andere wurzelt in den spätestens ab 1968 um 180 Grad gedrehten Auffassungen von Moral, zwischenmenschlichem Umgang, Würde und vor allem Freiheit. Der Inhalt der entdeckten Briefe hat mich zunächst erschüttert, dann aber Erkenntnis und Erleichterung gebracht. Der Weg dorthin war spannend, eine Berg- und Talfahrt mit Weinen und herzhaftem Lachen.

Ist es nicht wunderbar, die Gelegenheit zu bekommen, in die Zeit der Eltern und Großeltern hinein zu schnuppern? Ist es nicht schade, dass man die Beweggründe für elterliches Handeln erst nachvollziehen kann, wenn diese verstorben sind? Durch die Briefe sind meine Eltern in mir wieder auferstanden. In einem inneren Dialog mit ihnen konnte ich endlich Fragen stellen und Antworten erhalten.

Briefsammlungen dieser Art wird es bald nicht mehr geben. Leider!

Briefe lügen nicht - Wie wir wirklich waren

Подняться наверх