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Ein Abschied öffnet Tore in die Vergangenheit September 2008: Straße der Erinnerungen

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Ich konnte sie noch riechen, meine Eltern. Echt Kölnisch Wasser, Tabac Original, frisch gebügelte Wäsche, Grünkohl mit Pinkel, aufgebrühter Kaffee.

Meine Sinne wurden allerdings getäuscht. Das Haus hatten mein Mann Claus und ich leer geräumt. Ich schloss die Tür ab und setzte mich in unseren Kombi, der bis oben hin vollgepackt war. Auch im Fußraum lagen Bücher und Fotoalben. In diesem Haus im Heynesweg in Oldenburg bin ich nicht groß geworden, denn meine Eltern hatten es gebaut, nachdem Heiner und ich vor mehr als dreißig Jahren fortgegangen sind.

Ich zog die Autotür zu, mein Mann lenkte den Wagen die lange Auffahrt bis zur Straße hinauf. Nur eine Querstraße weiter bogen wir in den Drögen-Hasen-Weg ein, die schmale Straße, in der ich aufgewachsen bin. Solange ich nur denken kann, wurde sie von Eichen gesäumt. Nach wie vor, als ob es nicht schon längst eine Kanalisation gäbe, zogen Gräben rechts und links neben den Baumreihen entlang. In meiner Kinderzeit führten sie auch Abwasser.

Kaum hatte ich daran gedacht, stieg auch schon ein modriger Geruch in meine Nase und mit ihm die Erinnerung an meine kläglichen Versuche, die Gräben im Wettstreit mit meinen Freunden zu überspringen. So manches Mal musste meine Mutter mich Stinktier mit dem kalten Wasserschlauch abspritzen.

Wie in Zeitlupe passierten mein Mann und ich diese für Norddeutschland typischen, kleinen Spitzgiebelhäuser. Eine Ausnahme bildete Haus Nr. 25a: Ina hatte dort gelebt, die Millionärstochter, mit der ich Pferd spielte. Swimmingpool und hochmoderner Bungalow, das war schon sehr exotisch in dieser biederen Straße. In ihrem Garten stand ein Autowrack, das wir bemalen durften. Inas älterer Bruder hatte mich einst geohrfeigt, weil ich nicht in seinem Sinn die Farben aufgetragen hatte.

Haus Nummer 17: Jörg, er war oft Opfer meiner Launen. Wenn er mich von Zuhause zum Spielen abholen wollte, genügte ein Blick von mir als Ausdruck meiner miesen Stimmung …. und er zog wortlos davon. Später, viel später, vielleicht waren wir zehn Jahre alt, testeten wir uns im Gebüsch des Hinterlandes im Knutschen. Unsere Münder, geformt wie bei Spitzmäusen die Schnauzen, berührten sich hauchzart.

Haus Nr. 11: Jetzt erreichten wir die Mauern, die siebzehn Jahre lang mein Weinen und Lachen eingefangen haben, neunzig Quadratmeter Heimat, äußerlich unverändert. Vermutlich gab es immer noch diese steile Holztreppe, die direkt vom Esszimmer in den ersten Stock führte. Ob wohl immer noch eine Tür diesen Treppenaufgang vom Esszimmer trennte?

Die Stufen waren zu meiner Zeit mit einem grünlichen Teppichläufer belegt, der in den Kanten mit messingfarbenen Stangen gehalten wurde. Dieses System erwies sich mehrmals als eine sehr schlüpfrige Lösung. Die Stangen lösten sich, wenn wir Kinder die Treppe runter liefen. Wie oft bin ich dieses Höllenteil hinuntergefallen, vorzugsweise dann, wenn ich in den Händen einen Legokasten trug? Mit einem Knall landete ich unten an der Esszimmertür! Legosteine hinterließen ihre Abdrücke schmerzhaft in meinen Handballen.

Vor meinem inneren Auge erschien mir mein Zimmerchen mit den Dachschrägen. In den 70er Jahren bot eine knallgelbe, blumig gemusterte Tapete den Hintergrund für Pferdeposter und David Cassidy.

Von meinem Fenster aus konnte ich in den schmalen, langen Garten, über eine Teppichstange hinweg, auf den dahinter liegenden kleinen Bungalow schauen. Dort lebte Klaus. Ich lieferte ihm quasi seine Beine, denn er hatte Muskelschwund, hatte nie Laufen können. So raste ich mit ihm im Rollstuhl durch die Straßen meiner Stadt, immer einen Schabernack mit den staunenden Passanten treibend. Im Slalom umfuhren wir sie, oder wir taten so, als ob wir uns fürchterlich stritten, was für Kopfschütteln sorgte.

Von der Katze, die Johannisbeeren klaute, erzählte das Haus Nummer 9. Die aus meinem damaligen Blickwinkel uralte Nachbarin behauptete, dass unsere Pussy Geschmack an diesen Früchten gefunden hätte. Sie wollte wahrhaftig gesehen haben, wie auf jedem Eckzahn eine Johannesbeere steckte. Manchmal fielen Schüsse, jemand versuchte mit seinem Luftgewehr die Beeren klauende Katze zu verscheuchen.

Einige Jahre später ermutigten wir unsere Dackeldame Buffy, die Maulwurfshaufen in unserem Rasen aufzubuddeln, um die unterirdischen Bewohner zum Umzug zu bewegen. Das gelang dem Hund prächtig. Schon bald wölbten sich graue Erdhaufen auf dem Grundstück des Hauses Nr. 9.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, doch es waren wohl nur zwei Minuten gewesen, erreichten mein Mann und ich den Anfang meiner Straße, die Hausnummer 1.

Der Anblick des Seniorenheims holte mich abrupt aus meiner Versunkenheit heraus. Hier stand nämlich früher Detlefs Zuhause. Er war mein kleiner Freund für die ruhigen Spiele. Seine Heimat ist vor vielen Jahren abgerissen worden.

In unserem Auto transportierten wir einen schriftlichen Nachlass, an dessen Entdeckung ich mich erst drei Jahre später herantraute. Langsam begann ich zu erahnen, welche Werte er barg. Keine materiellen Werte, sondern emotionale.

Die Dokumente und Zeitzeugnisse, einige über hundert Jahre alt, bestehen aus gesammelten Zeitungsausschnitten, Fotos, gelblich oder schwarz-weiß, manche winzig klein, nicht größer als zwei mal zwei Zentimeter; Briefe an Angehörige und Freunde, an Behörden, von Behörden, Notizen, Schulhefte. Der vergilbte Papierwust erzählt von Liebe, Kummer, Freude, Hass, Geburten, Tod, Armut, Nazis, Krieg, Hunger, Reichtum, Stolz und Demut, Depression und Hoffnung.

Briefe lügen nicht - Wie wir wirklich waren

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